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ASIEN/769: Raymond-Davis-Affäre fordert zwei weitere Todesopfer (SB)


Raymond-Davis-Affäre fordert zwei weitere Todesopfer

Leichen pflastern den Weg des US-Imperialismus



Seit der "versehentlichen" Tötung 24 pakistanischer Grenzsoldaten im vergangenen November durch US-Kampfjets befinden sich die Beziehungen zwischen Pakistan und den USA in einer tiefen Krise. Ihren Anfang nahm die Krise jedoch bereits im Januar 2011, als ein US-Bürger namens Raymond Davis auf einer belebten Kreuzung im Zentrum von Lahore aus seinem Auto ausstieg und zwei Pakistaner kurzerhand erschoß. Davis arbeitete damals für das US-Konsulat in der pakistanischen Millionenstadt als privater Sicherheitsdienstleister - eventuell im Auftrag der CIA. Bei seinen beiden Opfern, dem 19jährigen Muhammad Faheem und dem 21jährigen Faizan Haider, handelt es sich offenbar um zwei Mitarbeiter des pakistanischen Geheimdienstes Inter-Services Intelligence Directorate, die Davis am fraglichen Tag auf einem Motorrad beschatteten. Ein dritter Pakistaner kam ums Leben, als ein Rettungstrupp aus dem US-Konsulat, der Davis vor einer Festnahme bewahren wollte, mit Vollgas zum Tatort eilte und Ibadur Rehman auf seinem Fahrrad mit einem Geländewagen überfuhr.

In Pakistan, wo sich die Menschen ohnehin seit Jahren über die illegalen, per Drohne geführten Angriffe auf Ziele im Grenzgebiet zu Afghanistan, bei denen Hunderte, vielleicht sogar Tausende von Zivilisten getötet wurden, ärgern, löste die Davis-Affäre eine Welle der Empörung aus (Der pakistanische Anwalt und Menschenrechtsaktivist Shazad Akbar spricht von rund 3000 Toten infolge von rund 300 Raketenangriffen in der Taliban-Hochburg Nordwasiristan). Die Forderung von US-Präsident Barack Obama und Außenministerin Hillary Clinton nach der Freilassung von Davis unter Verweis auf seine vermeintliche diplomatische Immunität empfanden die Pakistaner als unverfroren. Die Tatsache, daß sich die Insassen des Wagens, die den Fahrradfahrer töteten und anschließend Fahrerflucht begingen, gleich nach dem Vorfall ins Ausland hatten absetzen können, verstärkte in der pakistanischen Öffentlichkeit das Gefühl der Ungerechtigkeit.

Als sich nach mehreren Wochen der Megaphondiplomatie ein Kuhhandel abzeichnete - Freilassung von Davis gegen Bezahlung von Blutgeld an die Hinterbliebenen -, hat sich Faheems Witwe, Shumaila Kanwal, aus Protest dagegen mit Rattengift getötet. Das Fernsehinterview, in dem die erst achtzehn Jahre alte Frau noch am Sterbebett mit ihren letzten Atemzügen eine gerechte Bestrafung des Mörders ihres Ehemanns verlangte, hat die Menschen in Pakistan tief berührt. Dies erklärt zum Teil, warum Parlament und Regierung in Islamabad auf eine formelle Entschuldigung seitens der USA für die Tötung der 24 Grenzsoldaten beharren und eine Wiedereröffnung der Grenzübergänge nach Afghanistan für Nachschubtransporte der NATO davon abhängig machen.

Welche Arbeit Davis damals in Pakistan verrichtete, ist bis heute unklar. Berichten der pakistanischen Presse zufolge hatte er Moscheen, Madrassas und Militärinstallationen beobachtet. Darüber hinaus soll die pakistanische Polizei auf seinem Mobiltelefon die gespeicherten Telefonnummern mehrerer bekannter militanter Islamisten gefunden haben. So wird spekuliert, daß Davis Zielpersonen für eventuelle Drohnenangriffe ausgekundschaftet oder vielleicht mit willfährigen Mitgliedern der pakistanischen Taliban in Kontakt gestanden hat.

Dessen ungeachtet hat die Davis-Affäre inzwischen weitere Todesopfer gefordert. Am 30. Mai wurde die Witwe Zohra Haider zusammen mit ihrer Mutter Nabeela Bibi vom eigenen Vater Shahzad Butt erschossen. Wie die pakistanische Zeitung Express Tribune nach Aussagen von Freunden der Familie berichtete, wollte Haider demnächst wieder heiraten. Angeblich aus Angst, seine Tochter könnte das Geld, das sie als Entschädigung für die Ermordung ihres ersten Mannes erhielt, in die neue Familie mitnehmen, insistierte Butt, daß sie ihren Schwager heiratet. Dies lehnte Haider ab und erhielt dabei von ihrer Mutter Unterstützung. Offenbar aus Verärgerung über soviel weibliche Widerspenstigkeit hat Butt zuerst seine Frau erschossen und danach seine Tochter, als sie aus dem Haus, das sie mit einem Teil des Geldes in einer wohlhabenden Gegend von Lahore für sich und ihre Eltern gekauft hatte, floh, auf offener Straße hingerichtet. Derzeit befindet sich der gekränkte Familienpatriarch auf der Flucht.

Wie der Zufall so will, geschah diese grausame Familientragödie ausgerechnet am selben Tag, an dem John Brennan, der Nationale Sicherheitsberater von Präsident Obama, bei einer Grundsatzrede am Woodrow Wilson International Center for Scholars in Washington erstmals den Standpunkt der USA in Bezug auf die Drohnenangriffe offiziell erläuterte. Er bezeichnete das Drohnen-Programm der CIA als "legal", "ethisch" und "weise". Es würde lediglich auf Leute mit Raketen geschossen, die eine "bedeutende Bedrohung" für die USA und damit ein "legitimes, rechtmäßiges Ziel" darstellten, so Brennan. Anlaß für die plötzliche Offenheit Washingtons in Sachen Drohnen war der erste Jahrestag der Liquidierung von Osama Bin Laden im pakistanischen Abbottabad durch U. S. Navy Seals, mit der sich Obama im Kampf um die Präsidentenwahl schmücken will.

Seit dem Einzug Obamas ins Weiße Haus ist die Zahl der Drohnenangriffe drastisch gestiegen. Haupteinsatzorte der neuen Wunderwaffe sind Afghanistan, Pakistan, Somalia und der Jemen. Entgegen aller Erfolgsmeldungen des Pentagons sehen unabhängige Militärexperten den Einsatz von Drohnen im Jemen als Hauptursache für das Erstarken der dortigen Al-Kaida-Untergruppe, die östlich der Hafenstadt Aden inzwischen weite Teile des Landes unter ihre Kontrolle gebracht hat. In seiner Rede am Woodrow Wilson Center hat Brennan eingeräumt, daß die CIA-Drohnenangriffe zivile Opfer forderten, beteuerte jedoch gleichzeitig, daß solche Fälle von Kollateralschäden "extrem rar" wären.

Es gibt nicht wenige Gründe, dieser Behauptung mit Skepsis zu begegnen. Es sei zum Beispiel an den CIA-Drohnenangriff Mitte März 2011‍ ‍- wenige Stunden nachdem Raymond Davis freigelassen und Pakistan per Flugzeug verlassen hatte -, erinnert, bei dem 38 Teilnehmer eines Treffens von Dorfältesten im pakistanischen Nordwasiristan getötet wurden. Fünf Monate später am 22. August berichtete die Nachrichtenagentur Associated Press, der damalige CIA-Chef und heutige US-Verteidigungsminister Leon Panetta hätte jenen Raketenangriff persönlich angeordnet. In der fraglichen AP-Meldung wurde ein anonym bleibender Mitarbeiter der Obama-Regierung mit dem in seiner Arroganz nicht zu überbietenden Spruch zitiert: "Es war Vergeltung für Davis. Die CIA war zornig."

2.‍ ‍Mai 2012