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ASIEN/828: Afghanistans Taliban bekommen Konkurrenz vom IS (SB)


Afghanistans Taliban bekommen Konkurrenz vom IS

Streit um Mullah Omars Nachfolge droht die Taliban zu spalten


Nicht umsonst haben die Taliban über zwei Jahre lang die Nachricht vom Ableben ihres Chefs Mullah Omar geheimgehalten. Im April haben sie sogar mit der Veröffentlichung seiner Biographie die Legende, der 1960 geborene Veteran des Kriegs der afghanischen Mudschaheddin gegen die Sowjetunion, der zuletzt im November 2001 bei der Flucht vor den NATO-Invasoren per Motorrad aus der Stadt Kandahar gesichtet worden war, fungiere aus dem Untergrund noch als oberste Entscheidungsinstanz, aufrechterhalten. Die Täuschung hatte ihre Berechtigung, denn die Führungsposition des frommen, in bitterarmen Verhältnissen aufgewachsenen Omar galt, seit er 1996 in Kandahar vor seinen Mitstreitern den heiligen Umhang des Islam-Gründers Mohammed anzog und anschließend die erfolgreiche Eroberung Kabuls leitete, als unanfechtbar. Seit am 29. Juni die afghanische Regierung um Präsident Aschraf Ghani den Tod Omars bekanntgab und die Taliban am darauffolgenden Tag die Richtigkeit der Meldung bestätigten, tobt innerhalb der paschtunischen Rebellenbewegung ein heftiger Machtkampf. Im Grunde ist die Einheit der Taliban mit der Bekanntgabe des Todes von Mullah Omar zerbrochen.

Bis heute herrscht völlige Unklarheit darüber, wie der Schwager Osama Bin Ladens ums Leben gekommen ist und wo er begraben wurde. In der internationalen Berichterstattung kursieren verschiedene, sich gegenseitig widersprechende Versionen. In den meisten ist das einstige Oberhaupt des Islamischen Emirats Afghanistan eines natürlichen Todes aufgrund einer Krankheit gestorben. Manche Quellen behaupten, Mullah Omar sei in einem pakistanischen Versteck, entweder in Quetta, der Hauptstadt Belutschistans, oder in der Hafenmetropole Karatschi, aus dem Leben geschieden, andere wiederum behaupten, er sei im südlichen Afghanistan, das er niemals verlassen habe, gestorben.

Als die Taliban den Tod Omars bestätigten, haben sie gleichzeitig Mullah Aktar Mansur zu seinem Nachfolger erklärt. Die Umbesetzung an der Spitze der Organisation ist jedoch höchst strittig. Omars Familie ficht die Nachfolgeregelung wegen Intransparenz an. Schlimmer noch, eine Taliban-Splitterfraktion namens Fidai Mahaz, die seit 2013 die Bemühungen Mansurs um Friedensverhandlungen mit der afghanischen Regierung kritisiert, wirft ihm vor, Omar heimtückisch ermordet und einen Putsch durchgeführt zu haben. Laut Fidai Mahaz hatte Mullah Mansur mit Hilfe von Mullah Gul Agha der Medizin des leberkranken Omar über längere Zeit Gift beigemischt. Noch am Sterbebett soll Omar den Führungskreis der Taliban zu sich geholt haben. Unter Verweis auf "unehrenhafte Geschäfte" Mansurs soll er sich dessen Drängen, ihn zum Nachfolger zu ernennen, widersetzt haben. Daraufhin soll Mansur Omar erschossen haben. Der Vorfall soll sich am 23. April 2013 in der afghanischen Provinz Zabul ereignet haben.

In jener Provinz Zabul, die im Süden an Pakistan angrenzt, kommt es seit Anfang September zu blutigen Kämpfen zwischen der Fihai-Madaz-Fraktion um Mullah Mansur Dadullah und den Anhängern von Mullah Mansur. Dadullah und Mansur stehen sich schon länger feindlich gegenüber. Als Dadullahs Bruder, Mullah Dadullah Akhund, ebenfalls ein führender Taliban-Kommandeur, 2007 bei einen Überfall britischer und amerikanischer Spezialstreitkräfte getötet wurde, warf Dadullah Mansur eine indirekte Beteiligung vor und beschimpfte ihn als Handlanger Pakistans. Tatsächlich operiert Mansur seit Jahren aus Quetta, was ohne stilles Einverständnis der pakistanischen Behörden nicht ginge. Zudem war Dadullah Akhund, der im Krieg gegen die Sowjets ein Bein verloren hatte, als ausgesprochener Verfechter einer militärischen Strategie der Stärke und Brutalität und als Gegner jener Versöhnung zwischen Kabul und den Taliban, auf die seit Jahren die Regierung in Islamabad hinarbeitet, bekannt.

Seit Monaten macht sich der Islamische Staat (IS) in verschiedenen Regionen Afghanistan bemerkbar. Unzufriedene Taliban-Kämpfer werden rekrutiert, potentielle Gegner ausgeschaltet. Im August sorgte ein von der neuen IS-Dependance in Afghanistan ins Internet gestelltes Video aus der Provinz Nangahar für großes Aufsehen. Der Film zeigt zehn gefangene Taliban-Kämpfer, die mit verbundenen Augen zu einem Minenfeld geführt und dort in die Luft gesprengt werden. Einen Monat zuvor hatte Gulbuddin Hekmatyar, der frühere Premierminister Afghanistans und langjährige Taliban-Verbündete seinen Anhängern bei der Hizb-i-Islami empfohlen, sich dem IS anzuschließen. Am 8. September hat Khaama Press, die größte Onlinezeitung Afghanistans, gemeldet, Mullah Dadullah und Omars Bruder, Mullah Abdul Manan, hätten sich dem IS angeschlossen. Zuvor wären 230 IS-Kämpfer von der westlichen Provinz Farah in den Süden der Provinz Zabul verlegt worden und hätten Mullah Mansur vor dem Angriff der Taliban, die dort mit 2100 Mann einmarschiert waren, gerettet. Jedenfalls lassen die inneren Streitereien bei den Taliban und das Auftauchen der Konkurrenzformation IS jedwede Hoffnung auf ein baldiges Ende des Blutvergießens in Afghanistan als illusorisch erscheinen.

10. September 2015


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