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ASIEN/863: Indien heizt Grenzstreit mit China gefährlich auf (SB)


Indien heizt Grenzstreit mit China gefährlich auf

Vom Chumbi-Tal geht die Gefahr eines Atomkriegs aus


Seit Jahren sind die USA eifrig darum bemüht, Indien in ihre Eindämmungsstrategie gegenüber der Volksrepublik China zu integrieren, zur Aufgabe seiner traditionell neutralen Außenpolitik zu bewegen sowie aus der rüstungspolitischen Zusammenarbeit mit Rußland zu lösen. Zu diesem Zweck hat Washington während der Amtszeit von Präsident George W. Bush im Rahmen des sogenannten 1-2-3-Abkommens schlicht seine Verpflichtungen nach dem Nicht-Verbreitungsvertrag ignoriert und angefangen, zivile Nukleartechnologie an Indien zu liefern. Unter Barack Obama haben die USA 2016 Indien in den Rang eines "wichtigen Verteidigungspartners" ähnlich eines NATO-Mitglieds erhoben, um den Weg für den Export amerikanischer High-Tech-Waffen im großen Umfang an die indischen Streitkräfte freizumachen. Im Gegenzug stellte Indien seine Stützpunkte dem Pentagon zu logistischen Zwecken - Stichwort Afghanistankrieg bzw. Antiterrorkampf - zur Verfügung.

2014 hat die hinduchauvinistische Bharatiya Janata Party (BJP) unter der Führung von Narendra Modi die indischen Parlamentswahlen gewonnen. Ungeachtet der Tatsache, daß China längst zum größten Handelspartner Indiens avanciert ist, nimmt seitdem die Konfrontation zwischen den beiden bevölkerungsreichsten Staaten der Erde spürbar zu. Modi hat eine Teilnahme Indiens an Chinas Seidenstraße-Initiative, genannt "One Road, One Belt (OBOR)", ausgeschlagen. Die Gespräche zwischen Neu-Delhi und Peking über eine Beilegung ihres ewigen Grenzstreits kommen nicht voran. Es geht hier um chinesische Besitzansprüche auf Teile des ostindischen Bundesstaates Arunachal Pradesh sowie die Besetzung des nördlichen Teils von Dschammu und Kaschmir am Himalaya durch die Volksrepublik. An beiden Grenzabschnitten haben sich China und Indien 1962 einen kurzen, aber heftigen Krieg geliefert. 1993 und 1996 haben beide Staaten schriftlich vereinbart, den De-facto-Grenzverlauf zu respektieren und die Regelung des Streits einer gemeinsamen Expertenkommission zu überlassen. Doch deren Arbeit tritt seit Jahren auf der Stelle, wodurch jederzeit ein kurzer Funke ein Inferno auslösen könnte.

Anfang Juni kam es zu einer Eskalation, als indische Soldaten mit chinesischen Armeepionieren, die in dem abgelegenen Chumbi-Tal eine Straße bauen, aneinandergerieten. Das Chumbi-Tal gehört zu Tibet und damit völkerrechtlich zu China. Es liegt im Westen zwischen Sikkim, einem einst unabhängigen Königreich, das Indien 1975 illegal annektierte, und im Osten Bhutan, das Neu-Delhi als eine Art indisches Protektorat betrachtet. Die Sorge der Inder um den Straßenbau im Chumbi-Tal ist nicht ganz unbegründet. Eine ordentliche Straßenverbindung dort könnte der Volksarmee im Ernstfall die rasche Einnahme der schmalen Landzunge ermöglichen, die Westbengalen und das restliche Indien mit den nordostindischen Bundesstaaten Aruchnal Pradesh, Assam, Nagaland, Manipur, Mizoram, Meghalaya und Tripura verbindet.

Die Inder begründeten den Vorstoß mit der Behauptung, die Chinesen hätten auf Territorium zu arbeiten begonnen, das eigentlich Bhutan gehöre. Gegen die Glaubwürdigkeit dieser Version spricht die Tatsache, daß Bhutans Regierung erst mehrere Tage nach der indischen Aktion Peking eine Protestnote wegen der vermeintlichen Grenzverletzung hat zukommen lassen. Es deutet alles darauf hin, daß Indiens Premierminister Modi eine gezielte Provokation inszeniert hat, um sich bei der schon länger geplanten Begegnung Ende Juni in Washington mit dem neuen US-Präsidenten Donald Trump als unerschrockener Widersacher chinesischer Machtambitionen zu präsentieren.

Die Rechnung ging natürlich auf. Beim zweitägigen Gipfeltreffen Trumps und Modis wurde zum Beispiel ein zwei Milliarden Dollar schwerer Verkauf von 22 amerikanischen Spähdrohnen des Typs Guardian vereinbart, die es der indischen Marine ermöglichen sollen, von den Inselgruppen Andaman und Nicobar aus noch besser als zuvor die strategisch wichtige Straße von Malakka und damit den Zugang zum indischen Ozean für chinesische Kriegsschiffe und U-Boote zu kontrollieren. In den kommenden Tagen werden die Marinestreitkräfte der USA, Japans und Indiens ihr alljährliches Kriegsspiel im Indischen Ozean namens Malabar im Golf von Bengalen durchführen.

In Washington hat sich Trump für eine Vertiefung der "strategischen Partnerschaft" zwischen den USA und Indien nicht nur militärisch, sondern auch wirtschaftlich ausgesprochen. Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz hat sich Modi zur Freude Trumps die aggressive Haltung Washingtons gegenüber China im Streit um das Südchinesische Meer und gegenüber Nordkorea wegen dessen Atomwaffen- und Raketenprogramms zu eigen gemacht. Indien kooperiert seit einiger Zeit eng mit Vietnam. Während die vietnamesischen Streitkräfte Patrouillenboote und Raketen aus Indien im Wert von 500 Millionen Dollar erhalten, hat das indische Energieunternehmen ONGC Videsh von Hanoi Erkundungsrechte für Öl und Gas in einem Seegebiet zugesprochen bekommen, das innerhalb der von Peking beanspruchten Neun-Strich-Linie liegt und nach dessen Auffassung zur Ausschließlichen Wirtschaftszone (Exklusive Economic Zone - EEC) der Volksrepublik gehört.

Zum Glück waren die indischen und chinesischen Armeeangehörige, die im Chumbi-Tal aneinander gerieten, unbewaffnet. Folglich blieb die Auseinandersetzung beim Herumschubsen. Auf Tritte und Schläge wurde auf Befehl der kommandierenden Offiziere von beiden Seiten verzichtet. Dafür gaben die Scharfmacher in den Hauptstädten furchteinflößende Sprüche von sich. Während der indische Armeechef General Bipin Rawat verkündete, Indiens Streitkräfte wären für "zweieinhalb Kriege" gerüstet und bereit - gemeint sind militärische Konflikte mit China und Pakistan bei der gleichzeitigen Niederschlagung irgendwelcher Aufstände einheimischer Rebellengruppen wie zum Beispiel der Naxaliten -, hieß es in einem Leitartikel der in Peking erscheinenden, staatlichen und englischsprachigen Global Times unter Hinweis auf die Niederlage Neu-Delhis beim letzten Grenzkrieg 1962, dem aufmüpfigen Indien solle eine "harsche Lektion" erteilt werden.

Modi und Chinas Staatspräsident Xi Jinping haben die Gelegenheit, die gemeinsame Anwesenheit beim G20-Gipfel in Hamburg dafür zu nutzen, den Zwischenfall im Chumbi-Tal zu den Akten zu legen, offenbar bewußt verstreichen lassen. Von einem Vier-Augen-Gespräch der beiden Männer an der Elbe ist nichts bekannt geworden. Im Chumbi-Tal stehen sich chinesische und indische Truppen weiterhin unversöhnlich gegenüber. Während sich die Aufmerksamkeit der westlichen Medien auf den Atomstreit zwischen Pjöngjang und Washington richtet, wird die Möglichkeit eines heißen Krieges zwischen den beiden Nuklearmächten China und Indien, zu dem die Grenzstreitigkeiten an den Ausläufern des Himalayas jederzeit ausarten können, ausgeblendet.

10. Juli 2017


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