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ASIEN/932: Afghanistan - Verhandlung bricht an den Akzenten ... (SB)


Afghanistan - Verhandlung bricht an den Akzenten ...


In Afghanistan laufen die Bemühungen um Frieden auf Hochtouren. Gleichzeitig tobt der Krieg mit einer noch niemals dagewesenen Härte. Die Zahl der getöteten und verletzten Zivilisten schießt in die Höhe nicht zuletzt wegen der 2017 von US-Präsident Donald Trump gelockerten Einsatzregeln für die amerikanische Luftwaffe. Während die Taliban rund die Hälfte Afghanistans kontrollieren, ist in der anderen Hälfte des Landes niemand und auch kein Objekt vor ihren Überfällen und Bombenanschlägen sicher. Am 8. Mai tötete eine Bombe, welche die Taliban vor dem Kabuler Büro der weitgehend von den USA finanzierten Hilfsorganisation Counterpart International zur Detonation brachten, vier Soldaten, drei Zivilisten sowie einen bewaffneten Wachmann. Bei der Explosion einer weiteren Bombe am 24. Mai in der Kabuler Al-Takwa-Moschee kam der populäre islamische Gelehrte und Taliban-Kritiker Samiullah Rayhan sowie zwei seiner Gemeindemitglieder ums Leben. Einen Autobombenanschlag, der sich am 31. Mai ebenfalls in der afghanischen Hauptstadt ereignete, überlebten vier US-Soldaten schwer verletzt.

Allein am 28. Mai forderte der Krieg in Afghanistan mehr als 40 Tote. Bei Kämpfen in der östlichen Provinz Khost fielen 13 Soldaten, während im westlichen Ghor 23 Menschen, darunter Spezialstreitkräfte, Polizisten, Zivilisten und örtliche Milizionäre bei einer Taliban-Operation umkamen. Im nördlichen Samagan überrannten die Taliban einen Außenposten der Armee und töteten sechs Soldaten und Polizisten. Dessen ungeachtet fand am 28. und 29. Mai im Moskauer Nobelhotel President ein großes innerafghanisches Friedenstreffen statt. Anlaß der Versammlung war eine vom Kreml veranstaltete Feier zum 100jährigen Bestehen der diplomatischen Beziehungen zwischen Afghanistan und Rußland.

In seiner Eröffnungsrede versprach Außenminister Sergej Lawrow den afghanischen Vertretern jede Hilfe Moskaus bei der Schaffung von Frieden und Stabilität am Hindukusch. Die Interessen Rußlands am Frieden in Afghanistan sind elementar. Die Russen befürchten einen Terrorismus-Export von Afghanistan in die Nachbarländer Tadschikistan, Kasachstan, Turkmenistan und Usbekistan sowie eine Destabilisierung ganz Zentralasiens. Nach einem Besuch in Tadschikistan warnte am 22. Mai der langjährige Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes FSB, Alexander Bortnikow, vor der Anwesenheit von rund 5000 Kämpfern der "Terrormiliz" Islamischer Staat an der Nordgrenze Afghanistans.

Folglich dürfe die russische Seite die Stellungnahme, die der Chef der Taliban-Delegation, Mullah Abdul Ghani Baradar, in Moskau abgegeben hat, mit Wohlwollen aufgenommen haben. Baradar, der Mitte der neunziger Jahre zusammen mit Mullah Mohammed Omar die Taliban gegründet hat und im vergangenen Oktober auf Betreiben der USA aus dem Gefängnis in Pakistan entlassen worden war, um den afghanischen "Friedensprozeß" voranzutreiben, erklärte: "Das Islamische Emirat Afghanistan [als dessen Vertreter sich die Taliban bis heute betrachten - Anm. d. SB-Red.] strebt freundschaftliche Beziehungen zu all seinen Nachbarn an und wird es niemandem erlauben, vom afghanischen Territorium aus Angriffe auf andere Staaten zu unternehmen."

Eine solche Garantie samt ihrer konsequenten Einhaltung ist das Mindeste, was die USA und ihre NATO-Verbündeten verlangen, bevor sie überhaupt die Erfüllung der Forderung der Taliban nach Abzug aller fremdländischen Truppen aus Afghanistan in Erwägung ziehen. Angeblich hat der US-Chefunterhändler bei den Verhandlungen in Doha, Zalmay Khalilzad, gegenüber den Taliban die Bereitschaft der Trump-Regierung, die amerikanischen Streitkräfte heimzuholen, im Prinzip signalisiert. Doch wie die Umsetzung in Wirklichkeit aussehen könnte, weiß niemand. Rußland wäre sicherlich zufrieden, wenn die Taliban zusammen mit der staatlichen Armee und Polizei in Afghanistan oder auch ohne sie für Ordnung sorgten und mit aller Härte den Umtrieben der IS-Milizionäre ein Ende machten.

Die USA halten dagegen an der von ihnen finanziell unterstützten Regierung in Kabul sowie an deren Streitkräften, die das Pentagon seit mehr als 17 Jahren für viel Geld ausbildet und bewaffnet, fest. Vor diesem Hintergrund kann man sich vorstellen, daß die Amerikaner bei den Verhandlungen mit den Taliban den Abzug ihrer regulären Soldaten in Aussicht stellen, gleichzeitig aber erreichen wollen, daß eine kleinere Anzahl amerikanischer Spezialstreitkräfte, Ausbilder, Techniker sowie privater Sicherheitsleute in Afghanistan bleiben, um bei der "Terrorbekämpfung" mitzumachen, Kriegsgerät Made in the USA zu warten und die Beziehungen zum afghanischen Offizierkorps und Geheimdienst weiterhin pflegen zu können.

Ob die Taliban mit einem solchen Arrangement leben können oder nicht, muß sich erst zeigen. Bislang weigern sich die einstigen Koranschüler jedenfalls, jeden offiziellen Kontakt zur Regierung von Präsident Ashraf Ghani, den sie für eine Marionette des Westens halten, aufzunehmen. Bei den zweitägigen Treffen in Moskau stand den Taliban eine Delegation gegenüber, die von Ex-Präsident Hamid Karsai geführt wurde und in der viele gesellschaftliche Gruppen und politische Parteien vertreten waren. An den innerafghanischen Beratungen sollte sich als einziger Vertreter der Regierung Ghani deren Botschafter in Moskau, Latif Bahand, beteiligen. In der Öffentlichkeit weigern sich die Taliban, mit Bahand auch nur ein Wort zu wechseln. Das schließt aber eine Begegnung hinter verschlossenen Türen nicht aus.

Das sinkende Ansehen des Staatsoberhauptes im eigenen Land macht Ghani als potentiellen Verhandlungspartner für die Taliban entbehrlich. Der afghanische Präsident sieht sich im Parlament in Kabul sowie in den afghanischen Medien seit Monaten schweren Vorwürfen der Korruption und der Unfähigkeit ausgesetzt. Mit einer Wiederwahl Ghanis bei der Präsidentenwahl, die im Juli stattfinden sollte, jedoch wegen Organisationspannen bis auf September verschoben werden mußte, ist nicht zu rechnen.

4. Juni 2019


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