Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → REDAKTION


ASIEN/949: Indien - Mißtrauen zündet ... (SB)


Indien - Mißtrauen zündet ...


Die Diskrepanz hätte Ende Februar größer nicht sein können. In den Regierungspalästen Neu-Delhis wurde mit viel Prunk und Zeremonie US-Präsident Donald Trump samt Gattin Melania empfangen, während draußen auf den Straßen der 18,5 Millionen Menschen zählenden Hauptstadt Indiens ein anti-muslimischer Pogrom tobte, der mindestens 50 Menschen das Leben kostete und mehr als 200 schwer verletzt zurückließ. Und doch hängen die beiden Ereignisse zusammen. Die USA binden Indien immer stärker in ihre Containment-Strategie gegen die Volksrepublik China ein, was der hindunationalistischen Regierung in Neu-Delhi wiederum Freiraum verschafft, mit der muslimischen Minderheit von rund 200 Millionen Menschen so umzuspringen, wie es der gewaltbereite Teil der hinduistischen Mehrheit in der 1,3 Millionen Einwohner zählender Bundesrepublik Indien für richtig hält. Sanktionen wegen Menschenrechtsverletzungen und religiöser Diskriminierung muß Indien seitens des UN-Sicherheitsrats, in dem die USA bekanntlich Vetorecht haben, nicht befürchten.

Kaum hatte die seit 2014 regierende hindunationalistische Bharatiya Janatha Party von Premierminister Narendra Modi im Sommer die indischen Parlamentswahlen gewonnen, als sie auch schon den Autonomiestatus der mehrheitlich muslimisch bewohnten Sonderverwaltungszone Jammu und Kaschmir, die an China im Norden und Pakistan im Westen grenzt, aufhob und dort den Ausnahmezustand verhängte. Seitdem ist in Jammu und Kashmir der normale Alltag nicht wieder eingekehrt. Hunderttausende Soldaten und Polizisten patrouillieren auf den Straßen. Das Internet ist nach wie vor nur sehr begrenzt zugänglich. Durch ein neues Gesetz, daß erstmals seit 1948 den Kauf von Boden durch Auswärtige erlaubt, befürchten die Muslime in Kaschmir, die 70 Prozent der 13 Millionen Einwohner ausmachen, daß sie durch Zuzügler aus anderen Teilen Indiens verdrängt oder zumindest zur Bevölkerungsminderheit gemacht werden sollen, ähnlich wie es die israelische Regierung mittels illegaler Siedlungen im besetzten Westjordanland mit den Palästinensern macht.

Im November haben Indiens Hindu-Fundamentalisten vor Gericht einen großen Sieg errungen. Nach mehr als zwei Jahrzehnten Streit gab der Oberste Gerichtshof grünes Licht für den Bau eines Hindutempels zu Ehren des Gottes Ram auf einem Gelände in der Stadt Ayodha, wo einst eine Moschee gestanden hatte. 1992 hatten Hindu-Fanatiker die Babri-Madjid-Moschee in der Provinz Gujarat gestürmt und sie dem Erdboden gleichgemacht. Die Aktion sowie anschließende Pogrome gegen die Muslime in Gujarat, die 2000 Menschen das Leben kosteten, ließ die damalige Provinzregierung geschehen; ihr Chef hieß Narendra Modi, dessen politischer Aufstieg seitdem mit einer landesweiten Welle des hindunationalistischen Herrenmenschentums eng verknüpft ist. Immer wieder werden unschuldige Moslems von hinduistischen Gewalttätern mit der Begründung gelyncht, sie hätten Rindfleisch gegessen. Selbst vor tödlichen Bombenanschlägen, die als das Werk islamistischer "Terroristen" ausgelegt werden, schrecken die Anhänger des Hindutums (Hindutva) und ihre Helfershelfer bei Militär und Polizei nicht zurück.

Im Dezember brachte die BJP-Regierung im Eilverfahren ein Gesetz durchs Bundesparlament, das illegalen Einwanderern und deren Nachfahren aus den Nachbarstaaten Pakistan, Bangladesch, Nepal und Bhutan die indische Staatsbürgerschaft gewährt - aber nur solange sie keine Moslems sind. Das neue Staatsbürgerschaftsgesetz diskriminiert eindeutig die muslimische Gemeinde. Viele Inder befürchten, daß das neue Gesetz benutzt wird, um die Moslems sowie Angehörige kleinerer ethnischen und religiösen Minderheiten, wie zum Beispiel die Dalits, zu Menschen zweiter Klasse zu degradieren. Deshalb laufen seit Ende 2019 in vielen indischen Städten große Proteste. Die Modi-Regierung versucht, die Demonstranten als Unruhestifter und fünfte Kolonne Pakistans zu diffamieren. Die durchsichtige Hetzkampagne gegen die politische Opposition hat der BJP bei den Kommunalwahlen in Neu-Delhi Mitte Februar eine schwere Niederlage beschert. Von den 70 Sitzen im Rathaus der indischen Hauptstadt erhielt die BJP lediglich acht; die oppositionelle, säkulare Partei des einfachen Mannes (AAP) dagegen 62. Der Zorn über diese Niederlage löste wenige Tage später die Unruhen aus.

Im Rahmen der Proteste gegen das Citizenship Amendment Act (CAA) hielt eine Gruppe Frauen aus dem muslimischen Arbeiterviertel Maujpur seit Dezember eine Straße besetzt. Am 24. Februar, an dem Trump seinen zweitägigen Besuch in Neu-Delhi antrat, führte Kapil Mishra, ein unterlegener BJP-Kandidat bei der Kommunalwahl, einen Hindu-Mob mit dem Ziel an, die Straßenblockade ein für allemal zu beenden. Als sich die Frauen weigerten, ihren Protest abzubrechen, kam es zu einer Straßenschlacht, die in die schlimmsten Gewaltexzessen ausartete, die Indien seit 1992 erlebt hat. In Maujpur und dem ganzen Nordosten Neu-Delhis wurden Muslime zum Freiwild. Unabhängig von Alter oder Geschlecht wurden sie geschlagen, mit Brennflüssigkeit beworfen und angezündet, vergewaltigt und zu Tode getrampelt. Wohnhäuser und eine Moschee wurden niedergebrannt. Tausende von Menschen befinden sich seitdem immer noch auf der Flucht. Man kann davon ausgehen, daß die tatsächliche Opferzahl weit höher liegt als offiziell angegeben.

Bei alldem hat die Polizei Neu-Delhis tatenlos zugesehen. Statt die rasende Menge zur Räson zu bringen, wurde diese von Mitgliedern der Modi-Regierung zu ihrem mörderischen Treiben angefeuert. Noch vor Ausbruch der Gewalt in Neu-Delhi bezeichnete der stellvertretende Finanzminister Indiens, Anurag Thakur, die CAA-Gegner als "Verräter", die man am besten "erschießen" sollte. Als das Blut in den Straßen Neu-Delhis nur so floß, erklärte BJP-Vertreter B. C. Patel, Landwirtschaftsminister des Bundesstaats Karnataka, daß jeder, der eine pro-pakistanische Parole skandiere, "auf der Stelle erschossen" gehöre. Erst als Mord und Totschlag etwas abgeebbt und der Staatsgast aus den USA wieder abgereist war, äußerte sich Modi zu den Vorgängen und schickte eine Twitter-Meldung vorgeblichen Bedauerns in die Welt hinaus.

In Pakistan, das sich als muslimische Schutzmacht versteht, verfolgt man die Ereignisse im östlichen Nachbarstaat mit Abscheu und Sorge. Bei einer Rede am 7. Februar am renommierten International Institute of Strategic Studies (IISS) in London warnte der ehemalige Leiter der Planungsstabs bei den pakistanischen Streitkräften, Generalleutnant a. D. Khalid Kidwai, die Regierung in Neu-Delhi davor, das Nuklearwaffenarsenal Islamabads als "Bluff" zu betrachten. Bei einem Interview mit dem arabischen Fernsehsender am 26. Februar forderte Raja Farooq Haider, der gewählte Premierminister des kleineren pakistanischen Teils Kaschmirs, von der Regierung in Islamabad "wagemutige Schritte", um die Muslime auf der anderen Seite der Gebirgsgrenze vor der offenen Unterdrückung durch die indischen Behörden zu schützen. Es braut sich etwas Hochgefährliches auf dem Subkontinent zusammen.

4. März 2020


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang