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ASIEN/956: Kaschmir - Herd grenzüberschreitender Konflikte zwischen Pakistan und Indien ... (SB)


Kashmir - Herd grenzüberschreitender Konflikte zwischen Pakistan und Indien ...


Seit im vergangenen August die Regierung der hindunationalistischen Bharatiya Janatha Party (BJP) um Premierminister Narendra Modi den Autonomiestatus der Region Jammu und Kaschmir, dessen 13 Millionen Bewohner zu 70 Prozent Muslime sind, aufgehoben hat, spitzt sich die Situation in dem malerischen Bergtal mit seinen vielen Seen am Fuße des Himalaya zu. Bekanntlich streben Kaschmirs Muslime die Unabhängigkeit respektive den Anschluß an Pakistan an. Seit die Zentralregierung im Zuge der Aufhebung der Autonomie das Niederlassungsrecht für Hindus aus den anderen Teilen Indiens gelockert hat, befürchtet die Mehrheit der Kaschmiris zu Recht, daß Neu-Delhi sein Kaschmir-Problem auf dem demographischen Wege erledigen will.

Um Proteste gegen die Eingliederung Kaschmirs in den indischen Bundesstaat vorzubeugen bzw. zu unterdrücken, haben die indischen Behörden im letzten Sommer sämtliche Telefon- und Internet-Verbindungen der Region zur Außenwelt gekappt und erst im Verlauf von Monaten Stück für Stück wieder freigeschaltet. Potentielle Unruhestifter und selbst die gewählten Volksvertreter Kaschmirs wurden festgenommen und in Haftanstalten in anderen Teilen Indiens verbannt. Wegen des von Neu-Delhi verhängten Notstands und des darauffolgenden Generalstreiks der kaschmirischen Bevölkerung kam das öffentliche Leben zum Erliegen. Auch die Wirtschaft, vor allem die Tourismusindustrie, ging in die Knie. Erst zur Jahreswende kehrte allmählich eine gewissen Normalität zurück, doch dann brach im Frühjahr 2020 die Covid-19-Pandemie über Indien herein. Wie in anderen Teilen Indiens herrschte ab den 24. März auch in Jammu & Kaschmir ein generelles Ausgehverbot, das erst nach 21 Tagen allmählich gelockert wurde.

Dessen ungeachtet reißt der Aufstand kaschmirischer Rebellen, der bereits 1989 begonnen und seitdem rund 70.000 Menschen das Leben gekostet hat, nicht ab. Die in der Regel muslimischen Aufständischen agieren aus den schwer zugänglichen Bergwäldern Kaschmirs heraus und nutzen das benachbarte Pakistan als Rückzugsraum. Da ihr Anliegen in Pakistan auf breite Zustimmung stößt - schließlich hat eine Mehrheit der Kaschmiris bei der Teilung Britisch-Indiens 1948 für den Beitritt zu Pakistan gestimmt, nur ihr damaliger Maharadscha hat sich aufgrund von Bestechung aus Neu-Delhi für Indien entschieden - , beziehen sie von dort finanzielle und militärische Unterstützung. Indien wirft Pakistan deshalb immer wieder "Unterstützung des Terrorismus" vor. Die heimliche Zusammenarbeit zwischen Kaschmirs Rebellen und dem pakistanischen Geheimdienst Inter-Services Intelligence Directorate (ISI) ist in den letzten Jahren deutlich zurückgefahren worden. Doch ob sie gar nicht mehr stattfindet, dürfte zu bezweifeln sein.

Die Virulenz des Kaschmir-Konflikts ist in den letzten Tagen erneut sichtbar geworden. Bei heftigen Kämpfen zwischen Rebellen und staatlichen Streitkräften am 3. Mai in der Nähe des Dorfs Handwara im nördlichen Kaschmir kamen mindestens sieben Menschen ums Leben, darunter ein Oberst und ein Major der Armee sowie ein Offizier der örtlichen Polizei. Damit war die Gesamtzahl der in diesem Jahr bei bewaffneten Auseinandersetzungen in Kaschmir gefallener Aufständischen auf 50 und Militärs auf 20 gestiegen. Dies berichtete am 4. Mai die New York Times unter Verweis auf Angaben des South Asia Terrorism Portal, das den Kaschmir-Konflikt statistisch erfaßt.

Bei einer Razzia im Bezirk Pulwama im südlichen Kaschmir am 5. Mai gelang es der indischen Armee, vier Rebellen, darunter Riyaz Naikoo, den steckbrieflich gesuchten Chef der Gruppe Hisbul Mudschaheddin, zu töten. Der 35jährige, ehemalige Mathematiklehrer hatte sich 2012 dem bewaffneten Kampf gegen die indische Herrschaft angeschlossen, nachdem in jenem Sommer die Streitkräfte bei der Niederschlagung von Straßenprotesten gegen staatliche Repression in der kaschmirischen Hauptstadt Srinagar mehr als 100 Demonstranten erschossen hatten. Im Juli 2016 wurde Naikoo der Anführer der Hisbul Mudschaheddin. Zuvor war Burhan Wani, der Gründer der Organisation, bei einer Schießerei mit der Armee gestorben, was wiederum zu wochenlangen Protesten führte.

Wie sein Vorgänger galt Naikoo bei den Kaschmiris als Mann von großer Integrität, der von der indischen Zentralregierung quasi in den Aufstand gezwungen wurde und einen legitimen Kampf für seine Rechte und die seiner Landsleute führte. Von daher ist davon auszugehen, daß der Märtyrertod von Naikoo und die Weigerung der indischen Behörden, die Leiche seiner Familie zu übergeben - als Argument führt Neu-Delhi die Corona-Virus-Krise ins Feld - Spannungen mit sich bringen werden, die unweigerlich in Blutvergießen umschlagen. Hinzu kommt, daß sich in den letzten Wochen die indischen und pakistanischen Streitkräfte beiderseits der Line of Control (LoC), der De-facto-Staatsgrenze quer durch Kaschmir, immer wieder schwere Artillerieduelle liefern. Bei einer Schießerei an der LoC starb am 10. April eine Pakistanerin im Grenzdorf Rawalakot, als eine Kugel das Fenster ihrer Wohnung durchschlug und ihren Kopf traf. Nach pakistanischen Angaben kam das Geschoß aus einem indischen Maschinengewehr.

13. Mai 2020


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