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ASIEN/957: Afghanistan - in Anbetracht der Lage ... (SB)


Afghanistan - in Anbetracht der Lage ...


Nach vier Jahrzehnten Dauerkrieges haben die leidgeplagten Menschen in Afghanistan einiges miterleben und ansehen müssen. Doch der Überfall auf eine Entbindungsklinik in Kabul am 12. Mai, der 24 Patienten und Mitglieder des Krankenhauspersonals sowie den drei Angreifern das Leben kostete, hat die Menschen nicht nur in der Hauptstadt, sondern in ganz Afghanistan tief erschüttert. 18 Säuglinge haben an diesem schrecklichen Tag ihre Mütter für immer verloren und werden sie niemals kennenlernen. Kein Afghane und keine Afghanin werden die Fernsehnachrichtenbilder, wie kampferprobte Mitglieder der Spezialstreitkräfte mit jeweils einem winzig kleinen Menschenbündel im Arm aus dem durch Bombenexplosionen und Kugeleinschlägen halbzerstörten Gebäudekomplex zu den wartenden Ärzten und Krankenwagen rannten, jemals vergessen können. An diesem Tag sind die Hoffnungen auf eine Beendigung des Krieges, die durch den Abschuß eines Friedensvertrags zwischen den USA und den Taliban am 29. Februar in Katar aufgekommen waren, wie die sprichwörtliche Seifenblase zerplatzt.

Für diese Entwicklung trägt Präsident Aschraf Ghani die Hauptverantwortung. Statt, wie in der katarischen Hauptstadt Doha vereinbart, 5000 Taliban-Gegangene freizulassen und gegen 1000 von den Aufständischen verschleppte Soldaten und Polizisten einzutauschen, hat Ghani den Vorgang über Wochen und Monate verschleppt. Statt, wie von allen Seiten gefordert, eine Delegation für die innerafghanischen Friedensverhandlungen mit den Taliban zu nominieren, welche die verschiedenen im Parlament zu Kabul vertretenen Parteien und Gruppierungen repräsentiert, hat er sich einen überflüssigen Streit mit seinem früheren Premierminister Abdullah Abdullah, der genau wie Ghani den Sieg bei der Präsidentenwahl im September 2019 für sich reklamiert, geliefert. Kein Wunder, daß in einem Bericht des afghanischen Nachrichtenportals TOLOnews.com vom 13. Mai Sayed Ramin, ein Bewohner Westkabuls, wo besagtes Krankenhaus liegt, mit dem Worten zitiert wurde: "Sie (Ghani und Abdullah - Anm. d. SB-Red.) sollten sich schämen und zurücktreten."

Die Gescholtenen haben angesichts der großen Enttäuschung über ihr egoistisches Verhalten Besserung gelobt, eine rasche Beilegung ihrer Meinungsdifferenzen versprochen und die Bildung einer neuen Regierung der nationalen Einheit in Aussicht gestellt. Währenddessen hat Ghani eine neue Offensive der afghanischen Streitkräfte gegen die Taliban angekündigt, die er für den Angriff auf die Entbindungsklinik sowie zwei weitere Anschläge am 12. Mai jeweils in den Provinzen Nangarhar und Balkh, die alle drei zusammen 56 Menschen das Leben kosteten und mehr als 100 schwer verletzt zurückließen, verantwortlich macht. Die Taliban haben ihrerseits die Teilnahme an den drei Aktionen bestritten und sie statt dessen der "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) zur Last gelegt.

Wer hier Recht hat, läßt sich von außen her nur schwer beurteilen. Daß die Angreifer auf das Krankenhaus im mehrheitlich von Schiiten bewohnten Westkabul aus den Reihen des IS kamen, ist plausibel. Wie man anhand diverser Greueltaten in Syrien und dem Irak gesehen hat, halten die sunnitischen Fundamentalisten vom IS die Schiiten für keine "richtigen" Muslime, sondern für Ungläubige bzw. Ketzer, die lieber heute als morgen ins Jenseits befördert werden sollten. Doch in der Vergangenheit haben auch die Taliban, deren Reihen zum allergrößten Teil aus sunnitischen Paschtunen bestehen, immer wieder Objekte und Personen der schiitischen Minderheit der Hasara in Afghanistan angegriffen und geschändet. Möglicherweise war hier eine radikale Fraktion der Taliban am Werk, die dem Friedenskurs der eigenen Führung ablehnend gegenübersteht und den Krieg - notfalls mit Hilfe des IS - gegen die "Handlanger des Westens" in Kabul zum bitteren Ende führen will. Interessant ist auf jedem Fall der Umstand, daß der Angriff auf die Entbindungsklinik in Kabul nur einen Tag nach der Festnahme von Abu Omar Khorasani, dem IS-Chef für Südasien, samt zwei enger Kampfgefährten in Kabul durch den afghanischen Geheimdienst erfolgte.

Die Taliban, die in den zurückliegenden Wochen den fehlenden Friedenswillen von Präsident Ghani beklagt hatten, haben ihre Bereitschaft, die neue Offensive der afghanischen Streitkräfte in ihr Gegenteil zu kehren, erklärt. Am 14. Mai haben sie einen ersten Beweis ihrer Entschlossenheit demonstriert, als sie eine Lastwagenbombe vor einem Militärgericht in der ostafghanischen Stadt Ghardez zur Zündung brachten. Durch die ungeheure Explosion wurde das massive Gebäude weitgehend zerstört. In einer ersten Meldung sprach die Nachrichtenagentur Reuters von fünf Toten und 14 Verletzten. Ein Sprecher des afghanischen Innenministeriums äußerte jedoch die Befürchtung, daß bei den Bergungsarbeiten noch weitere "Dutzende" von Toten und Verletzten gefunden würden. Zu dem Anschlag hat sich Talibansprecher Zabihullah Muschahid im Namen der ehemaligen Koranschüler bekannt. Bereits am 7. Mai hatte die konservative britische Zeitung Daily Telegraph die Ernennung von Mullah Muhammed Yaqoob, dem ältesten Sohn des legendären, 2013 gestorbenen Taliban-Gründers Mullah Mohammed Omar, zum neuen Militärchef der Organisation gemeldet. In Afghanistan stehen die Zeichen wieder eindeutig auf Krieg.

15. Mai 2020


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