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HISTORIE/313: Japans Kriegsexperimente suchen Tokio heim (SB)


Japans Kriegsexperimente suchen Tokio heim

Massengrab in der japanischen Hauptstadt wird untersucht


Das schwerste moralische Erbe, das die Japaner seit Ende des Zweiten Weltkriegs zu tragen haben, stellen zweifelsohne die Experimente dar, welche Ärzte der Kaiserlichen Japanischen Armee zwischen 1936 und 1945 an mehreren tausend hauptsächlich chinesischen und russischen, aber auch amerikanischen und australischen Kriegsgefangenen durchgeführt haben. Bei den Experimenten wurden die Opfer auf verschiedene Art mit biologischen Erregern wie Anthrax, Pocken, Cholera, Pest, Ruhr und Typhus infiziert, um deren Verwendung als Kampfmittel auszuloten. Nicht wenige der erkrankten menschlichen Versuchskaninchen wurden sogar noch vor dem Eintritt ihres Todes seziert, und zwar ohne Narkose. Im Mittelpunkt des teuflischen Treibens stand die berüchtigte Einheit 731, die ein Außenlager nahe der nordchinesischen Stadt Harbin unterhielt, wo die meisten der "wissenschaftlichen" Experimente durchgeführt wurden. Einige der Erreger setzten die Japaner auch großflächig im Krieg ein. Schätzungen zufolge sollen Hunderttausende Chinesen dadurch ums Leben gekommen sein. Bis heute belastet die "Forschungsarbeit" von Einheit 731 die Beziehungen Japans zu China deshalb, weil sich Tokio weigert, sich dazu zu bekennen und sich dafür bei den Hinterbliebenen der Opfer und dem chinesischen Volk zu entschuldigen.

Durch das Leugnen werden die Japaner das Problem nicht los, wie Ausgrabungsarbeiten, die am 21. Februar in Tokio begonnen haben, zeigen. Auf dem Gelände einer ehemaligen Medizinschule soll nach den Leichen oder Leichenteilen einer unbekannten Anzahl der Opfer von Einheit 731 gesucht werden. 2006 hatte Toyo Ishii, eine ehemalige Krankenschwester, nach mehr als 60 Jahren Schweigen zugegeben, nach dem offiziellen Ende des Zweiten Weltkrieges am 15. August 1945 hätten sie und ihre Kollegen an der besagten Medizinschule den Befehl erhalten, noch vor dem Einzug der amerikanischen Besatzungstruppen in die japanische Hauptstadt alle Leichen, Knochen und Organe der menschlichen Versuchsopfer von Einheit 731 zu vergraben.

In einem am 22. Februar bei der Londoner Zeitung Independent erschienenen Artikel wird Ishii wie folgt zitiert: "Sie haben ein zehn Meter tiefes Loch ausgehoben, und einen Monat lang nach der Aufgabe Japans haben sie Leichen dort hineingeworfen. Zu den Leichen gehörten auch diejenigen der Leute, an denen man bei Experimenten die Auswirkungen von Krankheitserregern getestet hatte." Allen, die an der Aktion teilnahmen, wurde gesagt, sie sollten das ganze so schnell wie möglich vergessen und Fragen darüber einfach ignorieren. Anschließend hat man über dem Massengrab ein mehrstöckiges Wohnhaus errichtet, "damit es nicht mehr geöffnet werden konnte. Ein ehemaliger Angehöriger des Personals, der mit den Fakten vertraut war, wohnte in dem Gebäude, um darüber zu wachen", so Ishii.

Die Enthüllung Ishiis hat damals für Aufregung gesorgt, weshalb die japanische Regierung eine Untersuchung angeordnet hat. Fast fünf Jahre hat es gedauert, die Mieter des Gebäudes anderweitig unterzubringen und es abzureißen. Dessen ungeachtet sind die japanischen Behörden bemüht, die Bedeutung der Ausgrabungsarbeiten herunterzuspielen, genauso wie sie es getan haben, nachdem 1989 Bauarbeiter bei der Fundamentlegung eines Forschungsinstituts des Gesundheitsministeriums im selben Tokioter Stadtteil Shinjuku auf ein anderes Massengrab gestoßen waren. Wenngleich man dort sezierte Knochen Dutzender von Leichen fand, darunter Schädel mit Bohrlöchern, wollten die Behörden keine Verbindung zu Einheit 731 oder Beweise für Menschenexperimente gefunden haben. Als 2002 eine Gruppe Chinesen vergeblich eine Schadensersatzklage vor japanischen Gerichten verfocht, hat man ihnen die Aushändigung von DNA-Proben von den gefundenen Leichen verweigert. Im Fall des neuen Massengrabs dürfte es der japanischen Politelite schwerer fallen, die Verbindung zu den Greueltaten von einst zu bestreiten, schließlich stand auf dem fraglichen Gelände das eigentliche Forschungszentrum von Einheit 731.

Für die Tatsache, daß die Japaner diesen gräßlichsten Teil ihrer Geschichte bis heute nicht ausreichend aufgearbeitet haben, tragen die Amerikaner einen Gutteil der Verantwortung. Während nach dem Krieg von der US-Besatzungsadministration Ex-Premierminister Hideki Tojo und 13 andere japanische Führungspersönlichkeiten des Kriegsverbrechens für schuldig befunden und hingerichtet wurden, gingen Generalleutnant Shiro Ishii, der Leiter von Einheit 731, und seine wichtigsten Mitarbeiter nicht nur straffrei aus, sondern wurden finanziell entlohnt, ihre menschenverachtenden Erkenntnisse dem Pentagon zur Verfügung gestellt zu haben.

In aufschlußreichen Dokumenten aus dem Jahr 1947, die 2005 Prof. Keiichi Tsuneishi von der Universität Kanagawa im japanischen Nationalarchiv gefunden hatte, erklärt z. B. Brigadegeneral Charles Willoughby, damals Leiter der nachrichtendienstlichen Einheit G2 der US-Besatzungstruppen in Japan, gegenüber Generalmajor S. J. Chamberlin, damals Leiter der nachrichtendienstlichen Abteilung beim Generalstab des US-Kriegsministeriums in Washington, die durch die Vernehmung von Ishii und Konsorten "gewonnenen Informationen werden bei der künftigen Entwicklung des Biowaffen-Programms der USA von größtem Nutzen sein", die "Daten über menschliche Experimente könnten sich als unschätzbar erweisen". Die finanziellen Zuwendungen, "die nicht mehr als 150.000 bis 200.000 Yen" betragen hätten, hätten den USA "die Früchte von 20 Jahren Labortests und Forschungen eingebracht". So gesehen seien die Kosten der Bestechungsoperation der "reine Klacks", so Willoughby.

22. Februar 2011