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HISTORIE/334: Irak ... später entlarvt, weiter verschwiegen (SB)


Irak ... später entlarvt, weiter verschwiegen


Am 7. November wartete die angesehene Onlinezeitung Middle East Eye mit einem spektakulären Enthüllungsbericht auf, der in den westlichen Medien auf keine nennenswerte Resonanz gestoßen ist. Für diesen Umstand gibt es eine einfache Erklärung. In dem Artikel mit der Überschrift "Exclusive: UK spy agencies knew source of false Iraq war intelligence was tortured" geht es um die nachweisliche Verwicklung amerikanischer und vor allem britischer Geheimdienste und Regierungsvertreter in die vorsätzliche Erzeugung falscher Informationen mittels Folter, mit denen London und Washington 2003 ihre illegale Irakinvasion, die Hunderttausenden von Menschen das Leben kosten sollte, begründeten. Es handelt sich hier um schlimmste Kriegsverbrechen, begangen von den höchsten Repräsentanten der "Wertegemeinschaft" NATO. Kein Wunder, daß die Konzernmedien in Europa und Nordamerika wenig Interesse zeigten, die unappetitlichen Details der mission civilisatrice des Westens im Nahen Osten einem breiten Publikum zu erläutern. Das könnte zur Skepsis in den eigenen Reihen bei der nächsten Propagandaoffensive gegen den Iran, Rußland, China oder Nordkorea führen, die man überhaupt nicht gebrauchen kann.

Nur wenige Stunden nach den Flugzeuganschlägen auf die Zwillingstürme des New Yorker World Trade Center und das Pentagon in Arlington am 11. September 2001 hat der damalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld bereits seine Mitarbeiter angewiesen, "alle Hinweise", die in Richtung einer irakischen Urheberschaft hindeuten könnten, "zusammenzukratzen". Nach der ersten Post-9/11-Sitzung der Regierung von George W. Bush hat der Präsident den damaligen Leiter der Terrorbekämpfung im Nationalen Sicherheitsrat, Richard Clarke, mit Nachdruck dazu gedrängt, insbesondere der Frage nach einer Verwicklung Saddam Husseins nachzugehen, obwohl zu diesem Zeitpunkt Osama Bin Laden als Auftraggeber galt. Auch bei den Anthrax-Briefen, die im Herbst 2001 fünf Menschen töteten und 17 weitere krank machten, meinten Politik und Medien in den USA dahinter die Handschrift Saddam Husseins zu erkennen. Später sollte sich herausstellen, daß die Anthrax-Sporen aus dem Biowaffenlabor des US-Militärs in Fort Detrick, Maryland, stammten. Wie es dazu kommen konnte, ist bis heute nicht schlüssig geklärt worden.

Also liefen Ende 2001 und Anfang 2002 die Bemühungen der USA, die schockierenden Ereignisse des 11. September für einen Feldzug gegen Saddam Hussein und einen "Regimewechsel" in Bagdad zu instrumentalisieren, auf Hochtouren. Als nach dem Einmarsch der NATO-Streitkräfte in Afghanistan im Oktober 2001 zwecks Jagd auf Bin Laden und Sturz der Taliban erste mutmaßliche "Terroristen" aus dem Umfeld des Al-Kaida-"Netzwerks" in die Hände der CIA und des US-Militärs fielen, ging man richtig ans Werk. Alle "Terrorverdächtigen", darunter auch viele Unbeteiligte, die schlicht gegen Kopfgeld von den pakistanischen Behörden weiterverkauft wurden, deklarierte die US-Regierung als "feindliche Kombattanten", die keinen Schutz nach den Genfer Konventionen genossen. Die ersten Folterzentren richtete die CIA in Thailand und am afghanischen Militärstützpunkt Bagram nahe Kabul ein. Als demonstratives Zeichen amerikanischer Brutalität richtete das Pentagon auf dem Marinestützpunkt Guantánamo Bay ein Sonderinternierungslager ein, in dem mehrere hundert angeblich "gewaltbereiter Islamisten" jahrelang ohne Prozeß gefangengehalten und mißhandelt wurden.

In dem eingangs erwähnten Middle-East-Eye-Artikel haben sich der Investigativjournalist und Buchautor Ian Cobain sowie die Menschenrechtsexpertin Clara Usiskin mit dem Fall des Ibn Al Scheich Al Libi ausführlich befaßt. Der Libyer hatte sich in den achtziger Jahren am Kampf der Mudschaheddin in Afghanistan gegen die Sowjetarmee beteiligt und war danach dort hängengeblieben. Anfang 2002 wurde der 1963 in Libyen als Ali Muhammad Abdul Asis Al Fakheri geborene Mann an der afghanisch-pakistanischen Grenze aufgegriffen und der CIA übergeben. Weil er angeblich ein Ausbildungslager für das Al-Kaida-"Netzwerk" geführt hatte, entschieden sich CIA und MI6 für Al Libi als die Person, die ihnen entscheidende Hinweise für eine Zusammenarbeit zwischen Osama Bin Laden und Saddam Hussein im Bereich "Massenvernichtungswaffen" liefern sollte - freiwillig oder unfreiwillig.

Dem Martyrium Al Libis gingen Cobain und Usiskin mittels einer sorgfältigen Auswertung zweier Untersuchungsberichte nach, die im vergangenen Juni das Intelligence and Security Committee (ISC) des Parlaments in London zum Thema der Mißhandlung von Gefangenen des "Antiterrorkriegs" durch die britischen Geheimdienste veröffentlicht hat. Sie verglichen die darin enthaltenen Angaben, die teilweise kodiert sind, mit denjenigen des Berichts der Chilcot Inquiry über die Gründe für die Beteiligung Großbritanniens am Irakkrieg, dem Folterbericht des US-Senats von 2014 sowie zahlreichen anderen öffentlichen Quellen. Daraus ergibt sich ein schreckliches Bild der grausamen und zynischen Machtausübung seitens der Verantwortlichen an der Themse und am Potomac.

Hatte Blair am 14. September 2001 im Telefonat mit Bush jun. noch Zweifel an einer Zusammenarbeit zwischen dem säkularen Baath-"Regime" im Irak und der sunnitisch-fundamentalistischen Al Kaida geäußert, so revidierte er zwölf Monate später seine Meinung von Grund auf. Entscheidend für die neue Lageeinschätzung Blairs waren die Ergebnisse der Folter Al Libis. Dieser war in Bagram Anfang 2002 von CIA-Mitarbeitern schwerst mißhandelt und wegen mangelnder Gesprächsbereitschaft "in einem Sarg" von Afghanistan nach Ägypten transportiert worden, wo ihn die Schergen Hosni Mubaraks in die Mangel nahmen. Nach zwei Tagen blutiger Mißhandlungen in Kairo gab Al Libi zu Protokoll, Osama Bin Laden habe irgendwann einmal drei Anhänger nach Bagdad entsandt, damit diese von Saddam Husseins Leuten Unterricht im Bau einer Atombombe erhielten. Obwohl er sich die Geschichte unter der Folter schlichtweg ausgedacht hat, nannte Al Libi drei Bekannte aus der islamischen Szene als die Beteiligten an der Operation, damit das Ganze glaubwürdig erschien. Die Stichworte, anhand derer er seine Aussage formte, hatten CIA- und MI6-Mitarbeiter mit ihren Fragen geliefert. Zu Angaben über eine Zusammenarbeit zwischen Bagdad und Al Kaida in Sachen biologischer Kampfmittel fühlte sich Al Libi nicht imstande, da er zu wenig über die Materie wußte.

Das, was Al Libi von sich gegeben hat, um die Folter in Ägypten zu Ende zu bringen, reichte London und Washington vollauf. Ab September 2002 gingen die Angloamerikaner in die diplomatische Offensive. Unter dem Stichwort "Massenvernichtungswaffen" bauschten London und Washington Saddam Husseins Irak zu einer inakzeptablen Bedrohung des Weltfriedens auf. Rumsfeld schwadronierte von "kugelsicheren Beweisen" für die Existenz geheimer irakischer ABC-Waffen, während Bushs Nationale Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice vor Atompilzen über amerikanischen Metropolen warnte. Im Februar 2002 referierte US-Außenminister Colin Powell vor dem UN-Sicherheitsrat über den "finsteren Nexus" zwischen Irak und Al Kaida, während kurz danach Blair mit demselben erlogenen Argument die Zustimmung des britischen Parlaments für eine Kriegsbeteiligung der Streitkräfte Ihrer Majestät Königin Elizabeth II. an einer Strafexpedition im Zweistromland einholte.

Später hat Al Libi seine Aussagen revidiert, sie als erfunden und unter enormem Zwang entstanden bezeichnet. Dem Folterbericht des US-Senats ist zu entnehmen, daß die einzigen "Hinweise" auf eine Kollaboration zwischen Bagdad und Al Kaida im Bereich "Massenvernichtungswaffen" von Al Libi stammten. Cobain und Usikin stellten bei ihrer Recherche mit Verwunderung fest, daß die Person Al Libi im Chilcot-Bericht keinerlei Erwähnung findet, und hoben dies als schweren Mangel bei der offiziellen britischen Aufarbeitung des Irakkriegs hervor. Nach einer Odyssee durch verschiedene "black sites" der CIA landete Al Libi 2006 schließlich wieder in Libyen. Dort hat ihn das "Regime" Muammar Gaddhafis, der sich inzwischen mit dem Westen versöhnt hatte, im berüchtigten Gefängnis Abu Salim nahe Tripolis untergebracht. 2009, wenige Tage nachdem Menschenrechtler von Human Rights Watch Al Libi dort entdeckt hatten, soll er Selbstmord durch Erhängung in seiner Zelle begangen haben. Zur Selbstmordthese bei Al Libi meinte der renommierte Anwalt Clive Stafford-Smith, der seit Jahren zahlreiche Guantánamo-Häftlinge und Folter-Opfer von CIA und MI6 vertritt, in einem beim Middle East Eye erschienenen Begleitkommentar zum ausführlichen Artikel von Cobain und Usiskin:

Nur der leichtgläubigste Beobachter glaubt das. Und dennoch stimmt es, daß der arme Mann in einen Sarg und diesmal in ein richtiges Grab gesteckt wurde. Er stellte ein Problem dar: Wäre er jemals wieder mit dem Rechtsstaat in Berührung gekommen, wäre das für mächtige Leute einfach zu peinlich gewesen.

13. November 2018


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