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LATEINAMERIKA/2151: Mexikos Migrantengelder 2008 rückläufig (SB)


Trendwende bei der zweitgrößten Einnahmequelle des Landes


Seit Menschengedenken unterstützen Einwanderer in den Vereinigten Staaten ihre Angehörigen in der alten Heimat mit einem Teil ihres hart erarbeiteten Lohns. Diese 300 oder 400 Dollar, die sich ein Arbeitsmigrant monatlich vom Mund abspart, summieren sich angesichts eines Riesenheers von Menschen, die auf diese Weise für den Lebensunterhalt ihrer fernen Familien sorgen, auf gewaltige Summen und stellen für die Empfängerländer nicht selten einen wesentlichen Teil der Einkünfte dar. Wie etwa in den fünfziger Jahren ganze Dörfer im Osten und Südosten Europas nur durch solche Gelder der Auswanderer überleben konnten, hängen heute vor allem in Lateinamerika zahllose Existenzen von diesem Rückfluß ab.

Es geht dabei um Transfers, deren weltweiter Umfang auf 150 Milliarden Dollar jährlich geschätzt wird, womit sie die Entwicklungshilfe seitens der reichen Nationen um das Dreifache übertreffen und in etlichen armen Ländern auch die direkten Investitionen aus dem Ausland übersteigen. Dies macht deutlich, daß es vor allem die Arbeitsmigranten sind, die ihre Heimatländer unterstützen, während die vielzitierte offizielle Entwicklungspolitik weit dahinter zurückfällt.

In einer Studie, die von der Interamerikanischen Entwicklungsbank im vergangenen Jahr veröffentlicht wurde, gaben 81 Prozent der befragten Migranten aus lateinamerikanischen Ländern an, es sei schwerer, eine gutbezahlte Arbeit in den Vereinigten Staaten zu finden als vor Jahresfrist. Auch schickte der Befragung zufolge nur noch jeder zweite aus diesem Personenkreis regelmäßig Geld an die Angehörigen ins Heimatland, während es zwei Jahre zuvor noch 73 Prozent gewesen waren. Viele Immigranten zweifelten daran, daß sie noch lange in den USA bleiben könnten, und neigten angesichts dieser Ungewißheit dazu, mehr Geld zu sparen, um einen Grundstock für die mögliche Rückkehr zu schaffen. Mexikaner seien in diesem Land nicht mehr willkommen, war eine weit verbreitete Einschätzung. So gaben 83 Prozent der Befragten an, daß Diskriminierung hispanischer Einwanderer das gravierendste Problem sei, dem sie sich ausgesetzt sähen. Der Beitrag der Migranten aus lateinamerikanischen Ländern zu Wirtschaft und Gesellschaft der Vereinigten Staaten werde nicht mehr gewürdigt.

Eine Flut von Gesetzentwürfen und Verordnungen aller administrativen Ebenen bis hinunter zu den Kommunen zielt größtenteils auf eine Abschreckung der Einwanderer ab. Viele neue Gesetze sehen schärfere Auflagen und Strafen für Arbeitgeber vor, die Personen ohne gültige Papiere beschäftigen. Am weitesten ging man dabei in Arizona, wo man Unternehmern die Lizenz beim ersten nachgewiesenen Verstoß befristet und im Falle eines zweiten Verstoßes binnen drei Jahren auf Dauer entzieht. Die Betriebe sind verpflichtet, die vorgelegten Papiere mit einer zentralen Datenbank der Einwanderungsbehörde abzugleichen, um dabei gefälschten oder gestohlenen Unterlagen auf die Spur zu kommen. In Tennessee wurde die wissentliche Beschäftigung "Illegaler" zur Straftat erklärt, die mit Geldbußen bis zu 50.000 Dollar geahndet wird, und mehrere Bundesstaaten schließen solche Unternehmen von der Vergabe künftiger öffentlicher Aufträge aus.

Etliche Bundesstaaten machen es Einwanderern ohne gültige Papiere unmöglich, einen Führerschein zu erwerben, der vielfach als Identifikationsnachweis akzeptiert wird. Die schärfste Auflage wurde dabei in Louisiana beschlossen, wo die Angaben des Antragstellers mit der Datenbank der Einwanderungsbehörde und der Liste "Terrorverdächtiger" des Heimatschutzministeriuns abgeglichen werden. Elf Bundesstaaten haben "illegalen" Einwanderern staatliche Leistungen gestrichen, wobei man in Minnesota nicht einmal davor zurückschreckte, diesem Personenkreis die meisten ärztlichen Leistungen zu versagen.

Größter Empfänger von Geldern seiner vor allem in den USA lebenden und arbeitenden Bürger ist Mexiko mit einem Betrag, welcher der Summe sämtlicher Direktinvestitionen aus dem Ausland oder fast 80 Prozent der Erlöse aus dem Ölexport entspricht. Die Rezession in den USA traf vor den meisten anderen Sparten das Baugewerbe, das in der jüngeren Vergangenheit bis zu 20 Prozent Mexikaner zu beschäftigen pflegte. Hinzu kam die deutlich repressivere Anwendung der Einwanderungsgesetze im Verbund mit wachsender Ausländerfeindlichkeit, welche die Lebens- und Einkommensverhältnisse der Migranten verschlechterten.

Was sich in der Studie der Entwicklungsbank wie auch anderen Umfragen abgezeichnet hatte, wurde nun von der Zentralbank Mexikos offiziell bestätigt, nach deren Angaben der Gesamtbetrag der rücküberwiesenen Gelder erstmals seit Beginn entsprechender Aufzeichnungen vor dreizehn Jahren gesunken ist. Während Mexikaner im Jahr 2007 noch 26 Milliarden Dollar aus den USA geschickt hatten, war es 2008 eine volle Milliarde weniger, was einem Rückgang um 3,6 Prozent entsprach. Diese Entwicklung ist um so dramatischer einzuschätzen, als seit der ersten systematischen Erfassung durch die Zentralbank eine geradezu spektakuläre jährliche Zuwachsrate verzeichnet worden war.

Diese Trendwende wird von vielen Experten als signifikant und folgenschwer eingeschätzt, da die ausbleibenden Gelder zahlreiche mexikanische Familien der unteren Einkommensschichten in Mitleidenschaft ziehen, die nicht selten ihren Lebensunterhalt vollständig aus dieser Einkommensquelle bestreiten. Die verringerte Kaufkraft wird auf die einheimische Wirtschaft durchschlagen, die ohnehin schwer zu kämpfen hat. Die Migrantengelder sind nach den Erlösen aus dem Ölexport die wichtigste Devisenquelle Mexikos und kommen insbesondere den traditionell armen und von Landwirtschaft geprägten Regionen zugute, die eine besonders hohe Quote von Arbeitsmigranten aufweisen.

Während ein Arbeiter in Mexiko statistisch gesehen im Minimalfall nur 115 Dollar verdient, lagen nach den Daten der Zentralbank die monatlich rücküberwiesenen Summen mit 350 Dollar im Jahr 2006 deutlich höher. Auch dies unterstreicht die enorme Bedeutung dieser Einnahmequelle nicht nur für die betreffenden Haushalte, sondern die gesamte Region. Da die Migranten vor allem aus den ärmsten Landesteilen stammen, stellen die heimgeschickten Gelder den weitaus wichtigsten wirtschaftlichen, sozialen und strukturellen Impuls für diese Gegenden und die dort lebenden Menschen dar. Aus diesen Fonds bestreiten nicht nur zahllose Familien ihre alltägliche Lebenshaltung, sie dienen vielmehr auch der Alterssicherung sowie der Infrastruktur der Dörfer, die daraus Wasserleitungen, Kanalisation, Straßen und vieles andere mehr finanzieren. In vielen Fällen kompensierten diese Mittel fehlende staatliche Leistungen auf bundesstaatlicher und kommunaler Ebene, so daß das geflügelte Wort durchaus zutrifft, wonach viele Dörfer Mexikos in ihrer heutigen Existenzweise und Ausstattung von den Arbeitsmigranten gebaut worden seien.

Vom Rückgang der Überweisungen betroffen ist vor allem jener Teil der Bevölkerung, welcher der Armut dauerhaft zu entkommen hofft, indem er seine Lebensverhältnisse Schritt für Schritt bessert und insbesondere der nächsten Generation durch schulische und berufliche Bildung günstigere Voraussetzungen schafft. Auch in dieser Hinsicht droht die Trendwende eine negative Kettenreaktion mit verheerenden Konsequenzen auszulösen.

Noch ist nicht abzusehen, daß mexikanische Arbeitsmigranten massenhaft aus den USA zurückkehren, doch dürfte dies in erster Linie auf die inzwischen kaum minder schweren Probleme der mexikanischen Wirtschaft zurückzuführen sein. Indessen belegt eine aktuelle Studie aus dem Bundesstaat Michoacan, wohin nach Angaben der Zentralbank die größten Summen rücküberwiesener Gelder fließen, daß dort rund 20.000 Menschen nach den Weihnachtsfeiertagen nicht mehr wie früher in die USA zurückgekehrt sind.

Im Verhältnis Mexikos zu den USA war die wohlfeile Arbeitskraft mexikanischer Arbeitsmigranten häufig ein Faktor, den man unhinterfragt den angeblichen Vorteilen dieser engen Bindung für den weitaus schwächeren NAFTA-Partner zurechnete. Wie sich nun deutlich abzeichnet, kann sich unter der Voraussetzung von Ausbeutung und Abhängigkeit niemals eine Sphäre herausbilden, die als dauerhafter Besitzstand der Lohnarbeiter oder ihres Herkunftslands auszuweisen wäre. Allenfalls handelt es sich um eine befristete Vorteilsnahme, die mit dem hohen Preis vernachlässigter eigenständiger Entwicklung und Kooperation mit anderen Schwellenländern bezahlt werden muß.

29. Januar 2009