Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

LATEINAMERIKA/2157: Venezuela stimmt über Verfassungsänderung ab (SB)


Vor dem Referendum zur Möglichkeit uneingeschränkter Wiederwahl


Die Wähler Venezuelas sind aufgerufen, am kommenden Sonntag in einem Referendum über eine Verfassungsänderung abzustimmen. Auf Beschluß der Nationalversammlung stehen fünf Artikel zur Disposition, die das passive Wahlrecht betreffen und dabei die Möglichkeit einer Wiederwahl von Bürgermeistern, Abgeordneten, Gouverneuren sowie des Präsidenten regeln. Während diese Amtsinhaber bislang nur einmal wiedergewählt werden können, strebt die Regierung eine unbeschränkte Wiederwahl an.

Im Zusammenhang einer umfassenden Verfassungsreform rückten die Gegner des gesellschaftlichen Umgestaltungsprozesses stets die Frage, ob Präsident Hugo Chávez bei der nächsten Wahl im Jahr 2012 erneut kandidieren darf, in den Mittelpunkt ihrer Kritik. Dies trug maßgeblich dazu bei, das Reformwerk in seiner Gesamtheit und Bedeutung weitgehend auszublenden, indem man fälschlich den Eindruck erweckte, es handle sich dabei um bloße Dekoration oder gar eine Verschleierung des einzigen Zwecks, nämlich des unumschränkten Machterhalts einer Person.

Diese Bezichtigung wirft der venezolanischen Führung vor, sie befinde sich im Übergang zur Autokratie und nähere sich der Schwelle zur Diktatur, was in den erhobenen Einwänden mindestens nahegelegt und nicht selten sogar offen ausgesprochen wird. Diese Argumentation geht jedoch von Voraussetzungen aus, die man durchaus in Frage stellen kann, und unterschlägt zudem wesentliche Gesichtspunkte. Was sollte daran undemokratisch oder verwerflich sein, wenn eine Führungsperson solange im Amt bleibt, wie die Bevölkerungsmehrheit sie haben will? Man könnte es doch im Gegenteil als undemokratisch ausweisen, wenn ein Amtsinhaber aus formalen Gründen nicht wieder kandidieren darf, obwohl die Wähler mit seiner Arbeit zufrieden sind und ihn gern behalten würden.

Bei der angestrebten Verfassungsänderung geht es ja ausschließlich um die Möglichkeit der Wiederwahl und nicht etwa um einen Automatismus des Machterhalts, wie in diesem Zusammenhang häufig suggeriert wird. Bekanntlich hat Präsident Chávez die eigene Amtsführung und die Verfassung in einem Maße zur Abstimmung gestellt, das erheblich über das hinausgeht, was andere demokratische Staaten ihren Bürgern an Möglichkeiten der Einflußnahme zugestehen. Welches Land außer Venezuela, Bolivien und Ecuador hat eine Verfassung, die in einer Volksabstimmung angenommen wurde? Wo sonst ist zur Hälfte der Amtszeit die Möglichkeit eines Referendums über die Amtsführung und damit die vorzeitige Abwahl vorgesehen?

Auch gehen die Kritiker nur selten näher auf den Umstand ein, daß die aktuell vorgeschlagene Verfassungsänderung in einem Referendum entschieden wird. Die Möglichkeit einer solchen Volksabstimmung, von der man in Venezuela reichlich Gebrauch macht, ist bekanntlich in den sogenannten alten Demokratien mehr oder minder verpönt, die sich hüten, das Volk so dicht an die Entscheidungsfindung heranrücken zu lassen. Wer Chávez vorwirft, er lasse am 15. Februar zum zweiten Mal über eine Verfassungsänderung abstimmen, die Ende 2007 bereits mit dem Gesamtpaket der Reform gescheitert sei, der möge zuerst den Blick nach Irland richten, dessen Haltung zu Europa erst dann akzeptiert wird, wenn die Bürger den Vertrag von Lissabon akzeptieren.

Was Lateinamerika und andere Weltregionen betrifft, so hatten die führenden Industriestaaten nie ein Problem mit Diktatoren, solange diese als ihre Statthalter und Handlanger fungierten. Nun aus dem Munde bürgerlicher Kommentatoren zu hören, Chávez sei ein verkappter Diktator, zu dessen Sturz man beitragen müsse, ist erstens grundfalsch und zweitens ein Hohn angesichts jener waschechten Machthaber in aller Welt, die von den Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten installiert und unterstützt wurden und werden.

Natürlich hüten sich die ausländischen Kritiker der venezolanischen Führung davor, in diesem Zusammenhang ihr eigenes Regierungssystem unter die Lupe zu nehmen. Man denke nur an die USA, wo man Wahlkampfmillionär sein und von den einflußreichsten Kreisen finanziell und politisch unterstützt werden muß, um Präsident zu werden. Bis der inzwischen jahrelange Wahlkampf beendet und der Posten im Weißen Haus endlich neu besetzt ist, hat man Geldsummen in den Schornstein geblasen, von denen manches arme Land seinen Staatshaushalt bestreiten könnte.

Kennzeichnend für die USA und nicht nur für sie ist zudem ein politisches System, das von zwei großen Parteien beherrscht wird, die ihre eingeschränkte Form von Demokratie inszenieren, indem sie einander gelegentlich abwechseln und dabei unter gewissen Pendelschlägen Varianten ein und derselben Gesamtstrategie verfolgen. Kontinuität der politischen Führung wird auch dort verteidigt, wo zwar ein breiteres Parteienspektrum in Erscheinung tritt, man jedoch Minoritäten ausgrenzt, Parteiverbote erläßt und mutmaßliche Gegner des Systems verfolgt.

Prognosen zum Ausgang des Referendums in Venezuela weichen je nach Quelle extrem voneinander ab. Die Befürworter der Verfassungsänderung gehen von einem Erfolg aus und verweisen auf die Umfragen zahlreicher Meinungsforschungsinstitute, die in den letzten Wochen eine wachsende Unterstützung in der Bevölkerung ergeben hätten. Hingegen sagt die Opposition einen klaren Sieg der Gegner voraus und zieht dafür ihrerseits Umfrageergebnisse heran. Beide Lager mobilisieren ihre Anhänger zu Massendemonstrationen, zu deren Teilnehmerzahlen die Angaben ebenfalls weit auseinanderliegen.

Auf dem Spiel steht wie so oft in den zurückliegenden zehn Jahren die Entfaltung der bolivarische Revolution und die Ausgestaltung des Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Wenngleich es übertrieben wäre, das bevorstehende Referendum zu einer unumkehrbaren Weichenstellung hochzustilisieren, ist sein Ergebnis doch von weitreichender Bedeutung für den Fortgang einer auf wachsender Partizipation gegründeten gesellschaftlichen Entwicklung.

12. Februar 2009