Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

LATEINAMERIKA/2177: Haitis Elend als Labor administrativer Regulation (SB)


Bevorzugtes Studienobjekt für die Befriedung der Hungerrevolte


In Haiti gaben dieser Tage hochrangige Besucher einander buchstäblich die Klinke in die Hand, darunter auch UN-Generalsekretär Ban Ki Moon, der komplette Sicherheitsrat und der frühere US-Präsident William Clinton. Das ärmste Land Lateinamerikas, in dem 80 Prozent der Bevölkerung mit zwei Dollar oder weniger pro Tag auskommen müssen, Unterernährung epidemisch und der Hungertod allgegenwärtig ist, zieht wie ein Magnet führende Repräsentanten weltadministrativer Institutionen an. An dieser Mischung aus Elendslager, Labor der Züchtigung und Feldversuch der Befriedung studieren sie, wieweit man Menschen treiben kann und auf welche Weise sich die Hungerrevolte brechen läßt.

Die globale Systemkrise der kapitalistischen Wirtschaft verschärft die Armut weltweit in so dramatischem Maße, daß die Gewißheit der Eliten, daß ihr Überleben mit Hunger, Krankheit und Tod einer Mehrheit der Menschheit erkauft wird, den Bedarf an regulierenden Eingriffen zur Ausgrenzung, Eliminierung und Kanalisierung potentiellen Aufbegehrens enorm zugenommen hat. Ban Ki Moon brachte es hinsichtlich Haitis auf die Formel, das Land stehe "am Scheideweg zwischen Rettung und Finsternis. (New York Times vom 31.03.09)

Als funktionsfähiger Staat systematisch zerschlagen, gewaltsam seiner gewählten Regierung beraubt, jeden organisierten Widerstands gegen äußere Eingriffe entkleidet und von Besatzungstruppen kontrolliert, gibt Haiti das Bild eines inzwischen nahezu willenlosen Spielballs in einem Umfeld fortgesetzter Naturkatastrophen, ökonomischer Verheerungen und politischer Zwangsverhältnisse ab. Offenbar ist der UN-Generalsekretär fest entschlossen, diese malträtierte Nation zum Musterfall eines Krisenmanagements in Armutsregionen zu machen, das mit vagen Hoffnungen, haltlosen Versprechen und Hilfsleistungen unter dem Niveau des Allernötigsten die Schwelle kaum noch möglichen Überlebens weiter absenkt und zugleich den Zustand dumpfer Resignation und Fügung in das Schicksal fördert.

Wenn der Kapitän nicht weiß, wohin die Reise geht, kann einen kein Schiff der Welt in die richtige Richtung manövrieren, zitiert die New York Times als Fazit ihres Berichts einen jungen Haitianer, der die Unschlüssigkeit Präsident Réne Prévals beklagt und damit ins Horn der offiziellen UN-Vertreter stößt. Diese verorten als Kern aller Probleme der Haitianer deren Zerwürfnis, Rückständigkeit und mangelnde Tatkraft, als handle es sich um kulturspezifische Defizite und nicht etwa nahezu unausweichliche Folgen fortgesetzter Drangsalierung durch nationale Eliten, ausländische Plünderer und administrative Zwingherrn mit Sitz in Washington und New York.

Ein Ausschuß der UN-Vollversammlung hat den Vorschlag unterbreitet, die reichen Länder sollten ein Prozent der zur Stimulation ihrer eigenen Wirtschaft investierten Summe für die armen Länder abzweigen. Ban Ki Moon will auf dem G-20-Gipfel in London an jene Staaten erinnern, die nicht einmal von finanziellen Rettungspaketen träumen können, und eine Billion Dollar einfordern, um die schwächsten Nationen in den nächsten beiden Jahren über Wasser zu halten. Wer einen noch wohlklingenderen Vorschlag hat, möge ihn getrost in die Debatte werfen, denn für Rechenmodelle und andere Fiktionen wird man sicher nicht zur Verantwortung gezogen werden.

Die Vereinten Nationen haben seit 2004 rund 5 Milliarden Dollar für ihre sogenannte Friedensmission in Haiti aufgewendet. Hätte man dieses Geld den hungernden Haitianern zur Verfügung gestellt, brauchten sie keine Erde zu essen. Hätte man Präsident Jean-Bertrand Aristide nicht gestürzt, um einen nahezu "gescheiterten Staat" zu produzieren, wäre der regulative Aufwand nicht erforderlich gewesen. Da es aber nicht um das Wohlergehen der Menschen, sondern um deren Verwaltung geht, macht das angerichtete Chaos durchaus Sinn. Seit der ersten US-amerikanischen Invasion im Jahr 1915 haben Marines immer wieder den Strand Haitis gestürmt, um das Regime Washingtons durchzusetzen. Inzwischen erledigt die UNO das Geschäft, so daß sich die Amerikaner anderen Kriegsschauplätzen widmen können, die ihre Kräfte ohnehin überstrapazieren.

Wie die US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Susan E. Rice, kürzlich erklärte, könne man nicht alle Probleme mit militärischen Mitteln lösen. Die Entwicklung zu ignorieren, habe sich als tödliche Gefahr erwiesen, denn wo sie vernachlässigt worden sei, kehre sie zurück, um die Amerikaner zu beißen. Treffender hätte man die Doktrin der Obama-Administration kaum zusammenfassen können: Uns schert nicht der Hungerleider, wohl aber sein Potential, es uns heimzuzahlen.

31. März 2009