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LATEINAMERIKA/2340: Obama-Regierung beansprucht Löwenanteil der humanitären Profilierung (SB)


Militarisierung der Katastrophenhilfe beherrscht das Feld


Im Angesicht der Katastrophe, so heißt es, werden Wölfe zu Lämmern und Menschen zu Brüdern und Schwestern, als vergäßen sie ihre blutdurstige Natur - doch nur vorübergehend, wie man weiß, was dem Verdacht Nahrung gibt, man habe es bei diesem eigenartigen Phänomen lediglich mit der Fortsetzung des Raubes mit anderen Mitteln zu tun.

Dies sagte US-Präsident Barack Obama: "Die Berichte und Bilder von eingestürzten Hospitälern, zu Trümmern zerborstenen Häusern, Männern und Frauen, die ihre verletzten Nachbarn durch die Straßen tragen, sind wahrhaft herzzerreißend. Für ein Land und Volk, dem Mühsal und Leiden nicht fremd sind, mutet diese Tragödie ganz besonders grausam und unfaßbar an." Angesichts der Katastrophe in Haiti, fuhr er fort, "werden wir an die Humanität erinnert, die wir alle teilen". [1]

Müßte den Präsidenten nicht um so mehr die Tragödie der Afghanen, Iraker, Pakistaner oder Jemeniten rühren und an die Humanität erinnern, zumal deren Leiden nicht durch eine Naturkatastrophe eskaliert, sondern mit amerikanischen Bomben, Raketen und Granaten menschengemacht ist? Daß dies bekanntlich nicht geschieht, läßt auf eine Doppelzüngigkeit schließen, die System hat.

Welches Interesse haben die Vereinigten Staaten an Haiti, das Obama von einer "langen Geschichte" sprechen läßt, die beide Länder verbindet? Nachdem sich die Sklaven unter Führung Toussaint Louvertures gegen die französischen Kolonialherrn erhoben, die von Napoleon entsandte Armee vernichtend geschlagen und im Jahr 1804 die erste schwarze Republik der Weltgeschichte ausgerufen hatten, führten die USA deren internationale Blockade mit dem Ziel an, Haiti in die Knie zu zwingen und einen Übertrag der Sklavenrevolte auf die Südstaaten zu verhindern. Tatsächlich erkannten die Nordstaaten erst bei Ausbruch des Sezessionskriegs und damit 60 Jahre nach der Unabhängigkeit Haiti an. [2]

Mit Beginn des 20. Jahrhunderts unterwarf Washington Haiti seinem hegemonialen Anspruch und setzte diesen mit der Besetzung des Karibikstaats um, die von 1915 bis 1934 währen sollte und den haitianischen Widerstand grausam niederschlug. Die Marines räumten erst das Feld, als die einheimische Führung eine Armee aufgebaut hatte, die als Instrument der Repression gegen die Bevölkerung eingesetzt werden konnte. Die USA unterstützten 30 Jahre Diktatur unter den Duvaliers, beginnend mit François "Papa Doc" Duvalier, der 1957 an die Macht kam und die Tontons Macoute wüten ließ. Als Bollwerk gegen Kommunismus und Revolution in der Karibik stand das Regime ebenso im Dienst des US-Imperialismus wie die Militärmachthaber in zahlreichen anderen Ländern Lateinamerikas.

Auch nach der Vertreibung des jüngeren Duvalier im Jahr 1986 hielten die US-Regierungen Haiti in den Ketten von Abhängigkeit und Ausbeutung, die von den einheimischen Eliten zu Lasten der immer tiefer verelendeten Bevölkerungsmehrheit garantiert wurden. Washington unterstützte die beiden Staatsstreiche gegen Jean-Bertrand Aristide von 1991 und 2004, der sich großen Rückhalts unter den armen Leuten erfreute und nicht zu einer Marionette der USA verbiegen ließ. Vergeblich bat Aristide die Bush-Regierung um Hilfe gegen die vorrückenden Putschisten, bis er im letzten Augenblick von US-Soldaten entführt und außer Landes gebracht wurde. Tags darauf rückten die zuvor verweigerten US-Marines ein und besetzten Haiti.

Da die US-Regierung ihre Soldaten dringend im Irak benötigte, überließ sie 2004 einer UNO-Mission das Feld, die Haiti seither mit 9.000 Blauhelmen unter Führung der brasilianischen Armee unter Kontrolle hält. Die Furcht vor einer Rückkehr Aristides aus dem südafrikanischen Exil und einem Wiedererstarken seiner Partei Fanmi Lavalas hält auch in der Obama-Administration an, die den gestürzten Präsidenten weiterhin seiner Heimat fernhält. Die UNO-Mission MINUSTAH wird von vielen Haitianern und sozialen Organisationen in anderen Ländern kritisiert, die eine Demilitarisierung des Karibikstaates und den verstärkten Aufbau ziviler Sozialstrukturen fordern. Die militärische Besetzung kann die Probleme nicht lösen, da sie selbst das gravierendste Problem ist, das eine eigenständige Entwicklung verhindert. Die Blauhelme gingen gegen die Zivilbevölkerung vor und unterdrückten im Namen der Befriedung des Landes jedes Aufbegehren mit militärischen Mitteln. [3]

Die Militarisierung der Administration Haitis setzt sich nach dem verheerenden Erdbeben mit neuer Wucht fort, wobei es die Vereinigten Staaten sind, die uneingeschränkte Führerschaft beanspruchen. Das erste US-amerikanische Schiff, das nach dem Beben in den Hafen von Port-au-Prince einlief, war der in Guantánamo Bay stationierte Kutter "Forward" der US-Navy. Inzwischen ist auch der Flugzeugträger "Carl S. Vinson" mit einer Besatzung von rund 6.000 Mann eingetroffen, gefolgt von dem riesigen Landungsschiff "USS Bataan" mit 2.000 Marines an Bord. Hinzu kommt morgen der Zerstörer "USS Higgins". Eine Vorausabteilung der 82. Luftlandedivision hält sich bereits in der haitianische Hauptstadt auf, um die Ankunft einer vollen Brigade von 3.500 Fallschirmjägern vorzubereiten. Rechnet man die Soldaten aller Waffengattungen zusammen, hat das Pentagon in Kürze über 12.000 Mann in Haiti stationiert.

Die Invasion einer solchen Streitmacht wirft zwangsläufig die Frage nach der Befehlsgewalt in Haiti auf, das über keine eigenen Streitkräfte verfügt. UNO-Generalsekretär Ban Ki-Moon bezeichnete es als "unbedingt wünschenswert", sämtliche Kräfte in Abstimmung mit der MINUSTAH-Führung einzusetzen. Hingegen ließ das US-Außenministerium keinen Zweifel daran, daß die US-Truppen zwar mit der Friedensmission zusammenarbeiten würden, aber selbstverständlich unter US-Kommando blieben. Man leiste Soforthilfe, um Leben zu retten und dringend benötigtes Material bereitzustellen, stabilisiere die Lage und unterstütze langfristig den Wiederaufbau, aber man übernehme Haiti deswegen doch nicht, dementierten Vertreter der US-Regierung das Offensichtliche. [4]

Wenngleich auch eine Delegation der UNO eingetroffen ist, welche die beim Erdbeben ums Leben gekommen Führung der Mission vor Ort ersetzt, Hilfsmaßnahmen koordiniert und die Blauhelme kommandiert, ist die Rolle der US-Militärs so dominant, daß sich der Sprecher des Weißen Hauses, Robert Gibbs, zu der Erklärung genötigt sah, Washington übe keineswegs die Regierungsgewalt in Haiti aus. Vielmehr sei die haitianische Regierung in Port-au-Prince durchaus funktionsfähig. [5]

Außenministerin Hillary Rodham Clinton bezeichnete den Einsatz in Haiti als "eine Herausforderung" und zugleich "eine echte Chance". Die Regierung sehe die Hilfsmaßnahmen als einen Test der US-amerikanischen und multinationalen Effizienz und Kapazität. Wie geschmeidig die Obama-Administration ihren Anspruch auf Haiti durchträgt, zeigt der Umstand, daß sie die Kompetenz der kubanischen Ärzte eigens hervorhebt und mit Havanna die Vereinbarung getroffen hat, den Luftraum Kubas für die Evakuierung von Erdbebenopfern durchqueren zu dürfen, wodurch die Flugzeit nach Miami um 90 Minuten verkürzt wird. [6]

Gern erinnert man sich in Washington der erfolgreichen Entsendung von 8.000 Marines nach Indonesien, die nach der Tsunami-Katastrophe im Dezember 2004 in dem bevölkerungsreichsten muslimischem Land humanitäre Hilfe leisteten und das Ansehen der USA in dieser Region zumindest für einige Zeit spürbar verbesserten. Damals hatte der amtierende Präsident George W. Bush seinen Vorgänger Clinton sowie den früheren Präsidenten George Bush senior als Krisenbeauftragte bestimmt. Auf dieses Modell des Kriseneinsatzes greift nun auch Obama zurück, der seine Amtsvorgänger George W. Bush und Bill Clinton gebeten hat, gemeinsam die Erdbebenhilfe zu koordinieren. Wenngleich sich Clinton als UN-Sondergesandter für Haiti geradezu für diese Funktion aufdrängt, kann man das von George W. Bush nicht sagen, dessen Reaktion auf die durch den Hurrican "Katrina" 2005 ausgelöste Flutkatastrophe in New Orleans heftig kritisiert wurde. [7]

New Orleans vor Augen, ist Barack Obama um so energischer bestrebt, die erste große Naturkatastrophe seiner Amtszeit noch dazu in unmittelbarer Nachbarschaft nach besten Kräften zu nutzen, um sich mit einem Krisenmanagement zu profilieren, das die um sich greifende Enttäuschung über seinen politischen Kurs in den Hintergrund drängt und zugleich die uneingeschränkte Verfügung über Haiti unter dem bestmöglichen Vorwand zu garantieren scheint. Jetzt bietet sich die Gelegenheit, Lateinamerika mit Entschlossenheit zu beeindrucken und die Ernüchterung angesichts der unverminderten Fortsetzung amerikanischer Hegemonialpolitik vergessen zu machen.

Barack Obama verlor keine Zeit: "Ich habe meine Regierung angewiesen, mit einer raschen, koordinierten und aggressiven Kraftanstrengung zu reagieren", verkündete der US-Präsident nur wenige Stunden nach der Katastrophe. "Die Menschen von Haiti haben die volle Unterstützung der Vereinigten Staaten." Hillary Clinton sprach aufgewühlt von einer Tragödie biblischen Ausmaßes, die Haiti und das haitianische Volk anhaltend plagt: "Es ist so tragisch. Es gab so viel Hoffnung für Haitis Zukunft. Und dann kommt Mutter Natur und macht das einfach platt." Kurz nach dem verheerenden Beben verwandelte sich das Oval Office in eine Krisenzentrale. Auf der Website des Weißen Hauses erscheint seit dem 12. Januar ganz oben die Landkarte Haitis, womit die US-Regierung signalisiert, daß man sie jetzt nicht mit anderen Weltproblemen behelligen darf, damit sie sich ungehindert im allgemeinen Wettrennen um den Ertrag humanitärer Profilierung durchsetzen kann.

Anmerkungen:

[1] Hundreds of thousands feared dead in Haiti (14.01.10)
World Socialist Web Site

[2] The history that "binds" the US and Haiti (15.01.10)
World Socialist Web Site

[3] Totaler Zusammenbruch in Haiti (14.01.10)

Neues Deutschland

[4] Marines to aid Haitian earthquake relief. But who's in command? (14.01.10)
CSMonitor.com

[5] US provides more troops than aid. Death toll mounts in Haiti (15.01.10)
World Socialist Web Site

[6] Cuba Agrees to U.S. Medevac Flights (15.01.10)

New York Times

[7] Ex-Präsidenten Clinton und Bush sollen Hilfe koordinieren (15.01.10)
http://www.zeit.de/newsticker/2010/1/15/iptc-bdt-20100114-720- 23551460xml

15. Januar 2010