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LATEINAMERIKA/2352: Rios Bürgermeister forciert soziale Säuberung (SB)


Jüngste Zwangsmaßnahme vertreibt Straßenhändler von den Stränden


Da die Fußballweltmeisterschaft 2014 in Brasilien ausgetragen wird und das Internationale Olympische Komitee die Sommerspiele 2016 an Rio de Janeiro vergeben hat, ist die Sicherheitslage in den Metropolen des Landes in den Blickpunkt internationaler Aufmerksamkeit gerückt. Die brasilianische Regierung und die regionale Administration stehen unter erhöhtem Druck, eine Generaloffensive zur Befriedung brisanter Zonen zu starten, um die Prestigeprojekte ohne Zwischenfälle über die Bühne zu bringen. Zugleich liefert diese Konstellation die unschätzbare Vorwandslage, mit Blick auf die zum Ausbruch drängende Hungerrevolte das großangelegte Feldexperiment sozialer Säuberung zu perfektionieren und den repressiven Staat in Stellung zu bringen.

Auf den ersten Blick mutet die Meldung nicht allzu aufregend an, Rios neuer Bürgermeister Eduardo Paes mache sich daran, das bunte Treiben an den massenhaft besuchten Stränden der Stadt hier und da zu zügeln, um das Geschehen etwas moderater zu gestalten. Tatsächlich handelt es sich jedoch um strenge Razzien und zahlreiche Verbote, die im Kontext einer ganzen Reihe weiterer angekündigter oder bereits in Angriff genommener Maßnahmen, die Metropole "sauber" und "ordentlich" zu machen, das Gesamtbild bestätigen: Hier wird unterschwellig und mitunter auch offen Krieg gegen die Hungerleider geführt, indem man ihre Erwerbsmöglichkeiten beschneidet und sie drangsaliert oder regelrecht vertreibt.

Zu den rund 40 Kilometer langen Stränden von Rio de Janeiro strömen an sonnigen Sonntagen bis zu zwei Millionen Menschen, deren Versorgung die Existenz von Tausenden Kleinhändlern zumeist notdürftig sichert. Der neue Erlaß der Stadtverwaltung beschränkt sich vorerst auf einen etwa vier Kilometer langen Abschnitt zwischen den Orten Arpoador und Leblon, doch plant Rios Minister für öffentliche Ordnung, die Razzien noch in diesem Monat auf die Copacabana auszudehnen. Bis zum nächsten Jahr sollen die Regeln dann für sämtliche Strände der Stadt gelten.[1]

Zahllose Straßenhändler bangen nun um ihre Einkünfte, da der Verkauf von gekochtem Mais und anderen frisch zubereiteten Speisen wie Steaks und Shrimps auf dem Strand aus "Gesundheitsgründen" verboten wurde. Offenbar ist die Stadtverwaltung bestrebt, die beliebten kleinen Verkaufs- und Imbißstände vollständig zu verbieten und allenfalls noch den Verkauf des populären brasilianischen Eistees weiterhin zu gestatten, der von Händlern mit kleinen tragbaren Metallfässern angeboten wird. Damit nicht genug, ist auch Fußball- und Tischtennisspielen tagsüber dicht am Wasser nicht mehr erlaubt.

Eduardo Paes räumt zwar ein, daß öffentliche Plätze die Seele der Einwohner von Rio seien, doch identifizierten sich diese in den letzten Jahren so sehr mit diesen Orten, daß sie sie benutzten, als gehörten sie ihnen. Diese Klage des Bürgermeisters deutet an, welcher Alptraum die Übernahme öffentlicher Räume durch die Bevölkerung für die Administration sein muß, die ihren Anspruch auf vollständige Verfügung und Kontrolle nun rigide durchzusetzen versucht.

Kurz vor Beginn des berühmten Karnevals von Rio stießen diese Maßnahmen bei vielen Brasilianern auf heftigen Widerstand. Sie sehen nicht nur ihre Strandtraditionen gefährdet, sondern kritisieren auch, daß zahlreiche kleine Händler und Verkäufer dadurch arbeitslos werden. Erbost geißelte die Zeitung "O Globo" das neue "Strandregime" als "Apartheid", während Strandverkäufer von einem brutalen Vorgehen der Polizei bei den Razzien berichteten. Wer hier seinen Job verliere, finde keinen anderen Ort, an dem er arbeiten könne.

Seit Inkrafttreten der neuen Regeln vor einem Monat haben Polizisten bereits mehr als 2.000 Objekte wie tragbare Grillgeräte, Schiebewagen, Kochutensilien und Kleidungsstücke konfisziert. Allein an den letzten beiden Wochenenden wurden 62 Menschen verhaftet, weil sie nicht die 4.000 eigens für den Karneval bereitgestellten Toiletten benutzt hatten. In den vergangenen Tagen wurden fast 100 Menschen wegen Trunkenheit und Erregung öffentlichen Ärgernisses festgenommen, wobei die Polizei angekündigt hat, sie werde hart gegen Kleinkriminalität und andere Ordnungswidrigkeiten durchgreifen. Bis zur Fußballweltmeisterschaft 2014 und spätestens den Olympischen Sommerspielen 2016 will die Stadtverwaltung der Metropole ein neues Image verpassen, wofür sie schon während des diesjährigen Karnevals mit den geschilderten Maßnahmen experimentiert und Vorarbeit leistet. [2]

Schon bei der Olympiabewerbung hatte Präsident Luiz Inácio Lula da Silva Befürchtungen hinsichtlich der prekären Sicherheitslage Rios, welche die beiden sportlichen Großereignisse in Mitleidenschaft ziehen könnte, mit der Erklärung aus dem Feld geschlagen, die Regierung werde die Gewalt in den Favelas anpacken und das "schmutzige Image Rios säubern". Umgerechnet rund 40 Millionen Euro sollen in die Sicherheit der Metropole investiert werden.

Etwa ein Drittel der sechs Millionen Einwohner Rios lebt in den rund tausend Favelas, wo die Armut Verlaufsformen der Überlebenssicherung hervorbringt, die gemeinhin mit Gewalt und Kriminalität beschrieben und damit zu einem Problem administrativer, polizeilicher und militärischer Eingriffe und Sanktionen erklärt werden. Die brasilianische Regierung sagt dem ausufernden Verbrechen in den Slums den Kampf an, was im Klartext heißt, daß den dort lebenden Menschen der Krieg erklärt wird. Die Militarisierung der inneren Sicherheit hat in Brasilien längst Einzug gehalten, da bereits während der Panamerikanische Spiele 2007 ein massives Aufgebot von Soldaten und Polizisten im Einsatz war.

Hinzu kommen andere Strategien sozialer Säuberung, die in Rio de Janeiro Hochkonjunktur haben. Auch die berüchtigte "Null-Toleranz"-Doktrin des früheren New Yorker Bürgermeisters Rudolph Giuliani hat hier ihre Nachahmer gefunden. Dessen repressives Polizeiprogramm wurde wegen der damit verbundenen Menschenrechtsverletzungen massiv kritisiert und als brutale Verdrängungsmethode charakterisiert, die schlichtweg vertrieb und abschob, was nicht ins Bild der Ordnung paßte. Genau das fanden jedoch der Chef der Militärpolizei an der Copacabana, Oberst Celso Nogueira, bereits vor vier Jahren oder Anfang 2009 auch der neue Bürgermeister Eduardo Paes außerordentlich reizvoll.

Am Strand von Ipanema und anderen Anziehungspunkten für Touristen ging die Polizei rigoros gegen jeden vor, der ihrer Ansicht nach nicht in diese Umgebung paßte und als Störfaktor eingestuft wurde. Sie vertrieb oder bestrafte Straßenhändler ohne Lizenz, Taschendiebe und natürlich Kinder und Jugendliche, die ihrem äußeren Erscheinungsbild nach aus den Favelas stammten oder auf der Straße lebten. Man beseitigte die Notquartiere von Bettlern und transportierte Straßenkindern in lagerähnliche Unterkünfte ab. So sprang die Polizei brutal mit den Ärmsten und Schwächsten der Gesellschaft um, damit die Lebensqualität der wohlhabenderen Schichten nicht beeinträchtigt wurde. Von einer Lösung sozialer Probleme kann dabei natürlich keine Rede sein, da das Elend in einem primitiven Propagandamuster zur Folge fehlender Moral und Sittenstrenge erklärt und ausgegrenzt wird.

Um die Armut zu isolieren, umgibt man zahlreiche Favelas mit bis zu drei Meter hohen Betonmauern, wofür die unkontrollierte Ausbreitung der Slumgebiete, die den angrenzenden Atlantischen Regenwald zerstöre, als ökologischer Vorwand herhalten muß. Auf diese Weise wird Umweltschutz zur Sozialkontrolle instrumentalisiert, da er einen vorzüglichen Anlaß bietet, die Viertel der Armen nachhaltiger von den Wohngebieten der Reichen zu trennen.

Die Zugänge zu vielen Favelas werden von Polizeiposten kontrolliert, in manchen Vierteln haben paramilitärische Gruppen die Macht übernommen. Immer wieder belagern oder stürmen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte die Armenquartiere, worauf im Zuge der damit verbundenen Feuergefechte zahlreiche Menschen sterben oder verletzt werden. Die Auseinandersetzung an dieser Bruchlinie der gesellschaftlichen Widersprüche spitzt sich zu, zumal nun die polizeiliche und militärische Regulation der potentiellen Revolte immer weiter ins Zentrum administrativer Strategien rückt.

Anmerkungen:

[1] Rio de Janeiro: Strandleben sollen "ordentlich" werden (12.02.10)
http://orf.at/100210-47864/?href=http%3A%2F%2Forf.at%2F100210- 47864%2F47865txt_story.html

[2] Rio de Janeiro. Weltgrößte Samba-Party hat begonnen (12.02.10)
http://www.focus.de/panorama/vermischtes/rio-de-janeiro-weltgroesste- samba-party-hat-begonnen_aid_479789.html

13. Februar 2010