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LATEINAMERIKA/2356: Dilma Rousseff kandidiert für Brasiliens Präsidentenamt (SB)


Arbeiterpartei nominiert Vertraute Luiz Inácio Lula da Silvas


Nachdem die in Brasilien regierende Arbeiterpartei von Staatschef Luiz Inácio Lula da Silva die bisherige Ministerin Dilma Rousseff als Kandidatin für das Präsidentenamt nominiert hat, könnte das mit mehr als 190 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichste Land Lateinamerikas künftig von einer Frau geführt werden. Lula, der gemäß der Verfassung nach zwei vierjährigen Amtszeiten nicht mehr antreten darf, hatte der Partei seine enge Vertraute als Wunschkandidatin vorgeschlagen, worauf diese von 1.400 Delegierten auf dem 4. Nationalen Kongreß der PT in der Hauptstadt Brasília per Akklamation zur Bewerberin ausgerufen wurde. [1]

Ungeachtet der Empfehlung des populären Amtsinhabers geht die 62 Jahre alte Volkswirtin nicht zwangsläufig als Favoritin in das Rennen um die Stimmen ihrer Landsleute, die beim Urnengang am 3. Oktober ihr neues Staatsoberhaupt wählen. Ihr stärkster Konkurrent José Serra von der oppositionellen Sozialdemokratischen Partei (PSDB), der Lula 2002 klar unterlegen war und gegenwärtig als Gouverneur an der Spitze des Bundesstaates Sao Paulo steht, hat zwar seine Kandidatur noch nicht offiziell bestätigt, doch rangierte er in früheren Meinungsumfragen deutlich vor Rousseff, die ihren Rückstand in den letzten Monaten allerdings beträchtlich verringern konnte. Die große Herausforderung wird bei ihrer Kampagne nicht zuletzt darin bestehen, möglicherweise bis zu zehn verbündete Parteien unter einen Hut zu bringen.

Dilma Rousseff, deren Vater aus Bulgarien stammt, hat in ihrer Jugend in linken Guerillagruppen gegen die Militärdiktatur gekämpft, die das Land von 1964 bis 1985 mit ihrem repressiven Regime überzog. Sie ging 1967 als Studentin in den Untergrund, beteiligte sich an mehreren Banküberfällen und stieg in die Führungszirkel der Stadtguerilla auf. Wie sie im vergangenen Jahr erklärte, bereue sie ihre militante Vergangenheit nicht, wobei sie zugleich versicherte, sie habe nie an einer bewaffneten Aktion gegen die damalige Regierung teilgenommen. Insbesondere bestritt sie die ihr zugeschriebene Beteiligung an dem Raub von umgerechnet 2,5 Millionen Dollar aus dem Safe des Gouverneurs von Sao Paulo im Jahr 1969. Sie wurde 1970 festgenommen und wegen Zugehörigkeit zu einer bewaffneten Gruppe zu einer Haftstrafe von 25 Monaten verurteilt, wobei sie am Ende sogar drei Jahre im Gefängnis verbringen mußte, wo sie wiederholt mit Elektroschocks gefoltert wurde. Nach ihre Entlassung zog sie sich von den Aktivitäten der Guerilla zurück und wurde erst in den 1980er Jahren wieder zunehmend politisch aktiv.

Als erfolgreiche Energieministerin des südlichen Bundesstaats Rio Grande do Sul verschaffte sie sich schon vor zehn Jahren Respekt. Nachdem der frühere Gewerkschafter Luiz Inácio Lula da Silva 2002 zum Präsidenten gewählt worden war, holte er sie 2003 als Ministerin für Bergbau und Energie in sein Kabinett. Zwei Jahre später wechselte sie als Ministerin ins Präsidialamt, wo sie für die Koordinierung und Umsetzung der Regierungspolitik verantwortlich war. Sie trug maßgeblich dazu bei, die von Skandalen in der Arbeiterpartei und Regierung erschütterte zweite Amtszeit Lulas zu konsolidieren. Nachdem ihr Vorgänger José Dirceu, der 2005 maßgeblich am Stimmenkauf im Parlament beteiligt gewesen sein soll, seinen Hut genommen hatte, erwies sie sich als fähige Administratorin, die den Staatschef erfolgreich bei der Umsetzung seiner Sozialprojekte und Infrastrukturmaßnahmen unterstützte.

Nach ihrer Nominierung zur Kandidatin für das höchste Staatsamt muß sie gemäß dem Wahlgesetz bis Anfang April von ihrem Posten zurücktreten. Rousseff ist geschieden und Mutter einer Tochter. Wie sie erklärte, wolle sie die Politik Lulas und die von ihm auf den Weg gebrachten sozialen Programme fortsetzen. "Es wird weder Rückschritte noch Abenteuer geben", rief sie im Kongreßzentrum von Brasília. Hinter ihr war ein riesiges Bild zu sehen, das sie zusammen mit dem populären Staatschef Luiz Inácio Lula da Silva und der Aufschrift zeigte: "Mit Dilma auf dem Weg, den uns Lula gezeigt hat". In ihrer Rede sprach sich Rousseff für sozial- und außenpolitische Kontinuität sowie die weitere Stärkung des Staates in der Wirtschaftspolitik aus. Zwölf Millionen arme Familien bekommen derzeit monatliche Haushaltszuschüsse. [2] Ihr vom Parteitag angenommenes Wahlprogramm sieht eine Herabsetzung der Wochenarbeitszeit von 44 auf 40 Stunden bei vollem Lohnausgleich sowie eine stärkere Besteuerung großer Vermögen vor.

Auf dem Parteitag anwesend war auch Rousseffs voraussichtlicher Kandidat für die Vizepräsidentschaft, der Präsident der Abgeordnetenkammer Michel Temer von der konservativ-populistischen Partei der brasilianischen demokratischen Bewegung (PMDB). Diese gehört der landesweit regierenden Mitte-links-Koalition an. [3]

Im April 2009 kam Dilma Rousseffs Name in die Schlagzeilen, als publik wurde, daß sie an Krebs erkrankt war. Da damals längere Zeit ungewiß blieb, ob sie unter diesen Umständen überhaupt kandidieren werde, lebten Spekulationen auf, Präsident da Silva könne eine Verfassungsänderung anstreben, die ihm eine dritte Amtszeit ermöglichen würde. Hatte die Ministerin bis zu diesem Zeitpunkt keine allzu große Resonanz in den Medien gefunden, so wurde nun jede neue Meldung hinsichtlich ihrer Erkrankung und deren Behandlung zum Tagesgespräch. Das geflügelte Wort vom "Tancredo-Neves-Syndrom" machte die Runde, das sich auf den seinerzeit sehr beliebten Politiker bezog, der 1985 unmittelbar vor seiner Amtseinführung schwer erkrankte und starb, bevor er vereidigt worden war. [4]

Rousseff unterzog sich einer Operation und anschließenden Chemotherapie, wobei die Ärzte ihre völlige Genesung optimistisch bei 90 Prozent ansiedelten. Präsident da Silva stand unverrückbar zu seiner Wunschkandidatin und wiederholte ein ums andere Mal, daß sie auf dem Weg der Besserung sei und es keine dritte Amtszeit geben werde. Nach den Jahren der Diktatur hatten viele lateinamerikanische Staaten die Amtszeit ihrer Präsidenten strikt begrenzt, doch verwies man nun auf Venezuela und Ecuador, deren Staatschefs Hugo Chávez und Rafael Correa eine Verfassungsänderung erwirkt hatten, die ihnen die Kandidatur für weitere Amtszeiten ermöglichte. Auch in Kolumbien strebt ‘lvaro Uribe offensichtlich eine mögliche Verlängerung seiner Präsidentschaft an. Brasilien hatte seine Verfassung 1997 geändert und Fernando Henrique Cardoso die Bewerbung für eine zweite Amtszeit möglich gemacht. Lula schloß die Option einer erneuten Verfassungsänderung jedoch für sich aus und trägt sich vermutlich mit dem Gedanken, nach einer erhofften Interimszeit Dilma Rousseffs erneut anzutreten.

Hatte Dilma Rousseff in Meinungsumfragen bis dahin kaum mehr als 16 Prozent erzielt, während José Serra mit über 40 Prozent weit in Front lag, so verschaffte die Krankheit der Vertrauten Lulas einen beträchtlichen Bekanntheitsschub, der im Verbund mit der Empfehlung des Präsidenten, der das Land durch eine der prosperierendsten Perioden seiner Geschichte geführt hat, eine erfolgreiche Kandidatur nicht mehr ausschloß. Dennoch ist ihr Weg in das höchste Staatsamt noch weit, da es ihr im Gegensatz zu ihrem Mentor, der als begnadeter Redner nahezu jedes Publikum für sich einnimmt, schwerfällt, selbst das eigene Parteivolk zu begeistern. Sie gilt als trockene Politikerin ohne Charisma, die zudem im Umgang mit Kabinettskollegen oft Fingerspitzengefühl vermissen läßt.

Ihre politischen Gegner ausgeprägt neoliberaler oder konservativer Provenienz versuchen, aus ihrer Rolle als politische Weggefährtin und Wunschnachfolgerin des amtierenden Präsidenten Kapital zu schlagen, indem sie Dilma Rousseff als konturlosen Schatten Lulas abqualifizieren. Sie werfen ihr vor, über kein eigenes Programm zu verfügen und lediglich die alten Vorgaben noch dazu mit weniger Geschick als ihr Vorgänger zu erfüllen. Reaktionäre Kritiker unterstellen ihr angesichts ihrer lange zurückliegenden Zugehörigkeit zur Guerilla sogar, sie wolle den Staat zu Lasten der Wirtschaft weiter stärken und die Regierungspolitik nach links verschieben.

Diese Argumente sollen diffuse Ängste in der Bevölkerung schüren, wobei sie bei näherer Prüfung jeder Grundlage entbehren. Luiz Inácio Lula da Silva hat ungeachtet seiner flankierenden Sozialprogramme, die angesichts hoher Erlöse aus dem Export von Rohstoffen vor der Weltwirtschaftskrise relativ problemlos zu finanzieren waren, einen wirtschaftsfreundlichen Kurs angelegt, der bei der Unternehmerschaft breite Unterstützung fand. Von einer Orientierung an Venezuela oder chinesischen Verhältnissen kann in Brasilien keine Rede sein. Lula setzt unterdessen felsenfest darauf, daß seine Popularität im In- und Ausland die Garantie für den Erfolg seiner Wunschkandidatin ist, die seine Politik bruchlos fortsetzen soll. Sofern sie sich keine schwerwiegenden Patzer erlaubt, segelt sie seiner Meinung nach sicher im Wind seines eigenen politischen Rufs, den er gezielt mit der Strategie seiner Vorgänger kontrastiert. [5]

Nachdem Luiz Inácio Lula da Silva seine Wunschkandidatin zunächst im Alleingang auf den Schild gehoben hatte, baute er sie systematisch zur Wahlkämpferin auf. Gemeinsam lancieren sie Sozialprogramme oder weihten Staudämme und Fabriken ein. Dabei unterstützte sie fugenlos seinen Wachstumskurs, der Brasilien auf den Weg zur international einflußreichen Großmacht führen soll. In seinem Kabinett hatte sie sich zunächst als tüchtige Technokratin etabliert, die das Bergbau- und Energieministerium umstrukturierte sowie Vorstandsvorsitzende der halbstaatlichen Energiegesellschaft Petrobras wurde. Seit 2005 hielt sie alle Fäden im Kabinett in der Hand und Lula den Rücken frei.

Er pflegt sie als "Mutter des Wachstumsbeschleunigungsprogramms" zu bezeichnen, bei dem es sich um ein weitreichendes Investitionspaket der Regierung handelt, das von Atomkraftwerken bis zur Verbesserung der Trinkwasserversorgung reicht. Im September 2009 zelebrierte der Präsident den Beginn eines neuen Ölzeitalters für die südamerikanische Regionalmacht. Die riesigen Vorkommen vor der Atlantikküste, die der Konzern Petrobras 2007 entdeckt hatte, sollen in den kommenden Jahrzehnten erschlossen und unter der Regie einer neuen Staatsfirma gefördert werden.

Wie für ihren Mentor ist Wirtschaftswachstum zur Not auch auf Kosten des Umweltschutzes Dilma Rousseffs oberste Priorität, womit sie zunächst innerparteilich eine Gegenposition zu der früheren Umweltministerin Marina Silva einnahm, die 2007 nach mehreren Niederlagen zurücktrat und 2009 die Arbeiterpartei verließ. Im Oktober geht Silva als Präsidentschaftkandidatin der Grünen ins Rennen.

Die brasilianische Linke fürchtet, daß Dilma Rousseff als Präsidentin keinen Schritt über das hinausgehen würde, was ihr Lula vorgezeichnet hat. Der grundlegende Wandel, den Luiz Inácio Lula da Silva 2002 in Aussicht gestellt hatte, ist ausgeblieben. An den Herrschaftsverhältnissen hat sich nichts geändert, das politische Establishment betreibt sein Geschacher um Einfluß und persönliche Vorteile, die Landreform läßt weiter auf sich warten und der Raubbau in Amazonien geht weiter. Dilma Rousseff, so scheint es, würde diesen Kurs im Falle ihres Wahlsiegs ungebrochen fortsetzen.

Anmerkungen:

[1] Ex-Guerillera soll Brasilien lenken. Kandidiert für
Lula-Nachfolge: Dilma Rousseff (21.02.10)

http://www.dw-world.de/dw/article/0,,5270121,00.html

[2] Lulas umstrittene Nachfolge-Favoritin (21.02.10)
Der Standard

[3] Ex-Guerillera ist Präsidentschaftskandidatin in Brasilien (21.02.10)
http://www.google.com/hostednews/afp/article/ALeqM5hXPcNnDHWJpyiPent7guY- gTSMWg

[4] The Health of a Likely Presidential Candidate Comes Under Brazil's Microscope (24.05.09)
New York Times

[5] Parteikongress der PT kürt Dilma Rousseff zur Präsidentschaftskandidatin (21.02.10)
http://www.npla.de/de/poonal/2718-parteikongress-der-pt-kuert-dilma- rousseff-zur-praesidentschaftskandidatin

22. Februar 2010