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LATEINAMERIKA/2440: WikiLeaks - US-Diplomaten kritisieren Mexikos Streitkräfte (SB)


Mexikanische Militärs sträuben sich gegen Indienstnahme für die USA


Der spanische Journalist und Medienwissenschaftler Ignacio Ramonet zeichnet in einem Essay zur Verfaßtheit des mexikanischen Staates hundert Jahre nach der Revolution ein wahrhaft düsteres Bild der aktuellen Verhältnisse in diesem Land. Wie der Ehrenpräsident der globalisierungskritischen Bewegung Attac und Mitorganisator des Weltsozialforums schreibt, ähnele Mexiko in zunehmendem Maße einem "gescheiterten Staat", der in einer tödlichen Falle steckt. Seit Präsident Felipe Calderón am 1. Dezember 2006 seine "Offensive gegen den Drogenhandel" gestartet hat, überzieht eine Welle der Gewalt das Land, der 30.000 Menschen zum Opfer gefallen sind. Während die soziale Lage auf fatale Weise an jene des Jahres 1910 erinnert, eskalieren drei ineinander verschränkte Kriege: Die Drogenkartelle ringen um die Kontrolle über ihre Gebiete, kriminelle Organisationen ehemaliger Polizisten und Militärs drangsalieren die Zivilbevölkerung, während Militärs und Sondereinheiten gegen die eigenen Bürger vorgehen. [1]

Allerorts trieben bewaffnete Schläger ihr Unwesen, seien es Sondereinheiten der Armee und Elitekommandos der Polizei, paramilitärische Banden und Auftragsmörder oder US-amerikanische Agenten der CIA und DEA. Die barbarische Gewalt suche inzwischen von der Hauptstadt abgesehen das ganze Land heim. Präsident Calderón verkünde regelmäßig Erfolge im Kampf gegen den Drogenhandel und preise den Einsatz der Armee, obgleich diese im Zuge ihrer Operationen Hunderte von Bürgern getötet hat. Daß diese Übergriffe nicht irrtümlich geschehen, sondern systematischer Natur sind, glaube Abel Barrera Hernandez, der soeben in den USA den Menschenrechtspreis Robert F. Kennedy erhalten hat. Seines Erachtens wird der sogenannte Antidrogenkampf dazu benutzt, den Protest der Bürger zu kriminalisieren und insbesondere die schwächsten Teile der Gesellschaft heimzusuchen. Die Streitkräfte schüren Angst und bringen den gesellschaftlichen Protest zum Schweigen.

Die Obama-Administration stuft den ausufernden Krieg in Mexiko als Gefahr für die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten ein. Wie Außenministerin Hillary Clinton erklärte, gehe die Bedrohung durch den Drogenhandel mit einem Aufstand einher. Das Land ähnele inzwischen dem Kolumbien der 1980er Jahre. Doppelzüngig fordert die US-Regierung das Nachbarland auf, alles zu unternehmen, um des Drogengeschäfts und der um sich greifenden Gewalt Herr zu werden, und lobt zugleich Präsident Calderón für die Militarisierung des Gesellschaft, die auf Geheiß Washingtons herbeigeführt wurde und maßgeblich zu dieser Entwicklung beigetragen hat.

Die USA tragen nicht nur deshalb eine hohe Verantwortung für den Krieg in Mexiko, weil sie der größte Absatzmarkt für Drogen sind und 90 Prozent der gesamten Gewinne aus diesem Geschäft auf ihrem Territorium erzielt werden. Sie sind auch der Hauptlieferant aller Waffen, sowohl für Polizei und Militär, als auch die Kartelle und Mörderbanden Mexikos. Vor allem aber subventionieren sie im Rahmen der "Mérida-Initiative" die Aufrüstung der mexikanischen Sicherheitskräfte und betreiben deren Anbindung an US-amerikanische Interessen. Mexiko wird auf diesem Weg zum Pufferstaat aufgebaut, der die Armutsmigration aus dem Süden aufhalten und die Hungerrevolte gewaltsam niederwerfen soll.

Wie aus Unterlagen der US-Botschaft in Mexiko-Stadt hervorgeht, die von der Enthüllungsplattform WikiLeaks veröffentlicht wurden, traut man den mexikanischen Sicherheitskräften nicht zu, die Macht der Kartelle zu brechen. Nach Angaben der Madrider Zeitung "El País", die zum Kreis der Medien gehört, denen WikiLeaks Dokumente vorab zugänglich gemacht hat, verortet Washington insbesondere Schwächen bei der Armee, die träge und wenig risikobereit sei. US-Diplomaten bemängeln demnach, daß die Soldaten im Kampf gegen die Drogenmafia nicht befugt sind, Beweismittel sicherzustellen und den Gerichten vorzulegen. Daher komme es zwar zu zahlreichen Festnahmen, doch nur selten zu Anklageerhebungen. So seien in Ciudad Juárez, die als Hochburg des Verbrechens gilt, nur zwei Prozent der Festgenommenen vor Gericht gestellt worden. [2]

Präsident Felipe Calderón habe sich "in beispielloser Weise" dem Kampf gegen die Kartelle verschrieben, was ihm hoch anzurechnen sei. Indessen hätten Mitglieder der mexikanischen Regierung vor US-Diplomaten die Befürchtung geäußert, ganze Regionen könnten unter die Kontrolle der Drogenbanden geraten. Grundsätzlich stünden die weit verbreitete Korruption und die Rivalität zwischen verschiedenen Einheiten der Sicherheitskräfte einer wirksamen Eindämmung der organisierten Kriminalität entgegen.

Washington wünscht sich für die im Rahmen der "Mérida-Initiative" investierten 1,4 Milliarden US-Dollar als Rendite nicht nur eine modernisierte mexikanische Armee von gesteigerter Effizienz im Bürgerkrieg, sondern zugleich eine kooperative Streitmacht, die als verlängerter Arm US-amerikanischer Interessen ausgesteuert werden kann. Wenn daher von US-Diplomaten intern harsche Kritik an Zustand und Haltung der Militärs ihres Gastlandes geübt wird, so nicht zuletzt wegen deren traditionellem Mißtrauen gegenüber den USA, das den von Washington angestrebten Zusammenschluß verhindert.

Von den 2.625 Dokumenten, die von der US-Botschaft oder den Konsulaten aus Mexiko nach Washington geschickt wurden und in Besitz der Internetplattform WikiLeaks gelangt sind, wurden bislang sechs aus der Zeit von Oktober 2009 bis Februar 2010 veröffentlicht. Vier von ihnen betreffen die militärischen Zusammenarbeit der Nachbarländer, was angesichts der Brisanz des "Antidrogenkriegs" nicht überrascht. In einem Dossier der US-Botschaft vom 29. Januar 2010 wird Mexikos Verteidigungsminister, General Guillermo Galvan Galvan, als politischer Akteur bezeichnet, dem es gelungen sei, die Privilegien und die symbolische Rolle des Militärs zumindest teilweise zu beschützen. Historisch sei das Mißtrauen gegenüber den Vereinigten Staaten die wichtigste Quelle einer bürokratischen Kultur, die das Verteidigungsministerium Mexikos den USA gegenüber verschlossen gehalten habe. [3]

Die mexikanischen Streitkräfte sind einerseits das Machtzentrum der mexikanischen Institutionen, das unter anderem Felipe Calderón nach seinem Wahlbetrug im Jahr 2006 mitten durch den massenhaften Protest in den Präsidentenpalast eskortiert hat. Andererseits mutet der riesige und sperrige Militärapparat in einem neoliberalen Umfeld nachgerade anachronistisch an, da er in seiner Schwerfälligkeit und Wucht unerwünschte Gegenläufigkeiten produziert. Wie aus den veröffentlichten Dokumenten hervorgeht, strebt das Pentagon konzeptionell die "Schaffung von Streitkräften des 21. Jahrhunderts in einer der führenden Demokratien in der Region" an. Zu diesem Zweck wurde eine bilaterale Arbeitsgruppe beider Verteidigungsministerien eingerichtet, die am 1. Februar 2010 ihre Arbeit aufnahm.

Zwischen dem konzeptionellen Entwurf und dessen Umsetzung klaffen offensichtlich gewaltige Lücken, die zu schließen den US-Diplomaten wie eine Herkulesaufgabe mit vorerst ungewissem Ausgang vorzukommen scheint. So mahnt der stellvertretende Botschafter John D. Feeley in einem Bericht vom Januar 2010 "eine stärkere Beachtung der Menschenrechte und eine breitere regionale Beteiligung" an. Daß man sich auf seiten der US-Administration wie auch der im Kongreß rivalisierenden beiden großen Parteien an der bekanntermaßen haarsträubenden Bilanz verletzter Menschen- und Bürgerrechte der mexikanischen Streitkräfte stößt, hat Tradition. Wenngleich diese permanenten Übergriffe zweifellos zu verurteilen sind, ist die Kritik doch im wesentlichen taktischer und strategischer Natur.

Vor dem Hintergrund der Menschrechtsverletzungen in Guantánamo, im Irak, in Afghanistan und an anderen Schauplätzen des sogenannten Antiterrorkriegs maßen sich die daran beteiligten Kräfte in den USA schlichtweg das Recht des Stärkeren an, wenn sie über die monierten Verhältnisse im Nachbarland den Stab brechen. Getragen ist die vorgetragene Sorge am allerwenigsten von einem Eintreten für die Opfer der Repression, sondern vielmehr von dem Kalkül, daß die Akzeptanz der Streitkräfte in der Bevölkerung Mexikos um so dramatischer schwinden könnte, je schärfer die Militarisierung der Inneren Sicherheit greift. Auch die Bedenken Feeleys, daß in Mexiko nicht einmal der Oberste Gerichtshof Einfluß auf die Rechtssprechung der Militärgerichte hat, sind vor allem dem dringenden Wunsch geschuldet, die weitreichende Abgeschlossenheit der Streitkräfte aufzubrechen, um sie einerseits kompatibler mit formalen demokratischen Standards und andererseits greifbarer für US-amerikanische Sicherheitskreise zu machen. Obgleich der Prozeß der Infiltration durch Belieferung mit Waffen, Informationstechnologie und Ausbildern auf historisch beispiellose Weise fortgeschritten ist, stehen der Vervollständigung der Indienstnahme noch massive ideologische Hindernisse im Weg.

Einbinden will man die mexikanischen Militärs wie im zweiten Punkt der Botschaftsdepesche angesprochen auch in eine stärkere regionale Präsenz nach dem Muster angeblich humanitärer Operationen wie im Protektorat Haiti. Das Beharren der Streitkräfte auf institutioneller Unabhängigkeit verhindert bislang deren Indienstnahme für regionale Einsätze, die es Washington erlauben, die Führung und Hauptlast militärisch-administrativer Konzepte zur Kontrolle ganzer Regionen oder Länder auf lateinamerikanische Schultern zu übertragen. Zum einen droht der permanenten Kriegsführung der USA an anderen und für sie gegenwärtig weitaus wichtigeren Schwerpunkten unablässig die Gefahr der Überstreckung, weshalb sich Washington genötigt sieht, wachsende Teile der Bürde auf Verbündete abzuwälzen. Zum anderen hat die Bush-Ära das ohnehin ramponierte Ansehen der Hegemonialmacht in Lateinamerika so tiefgreifend erschüttert, daß man regulative Eingriffe tunlichst kaschiert und den Eindruck zu erwecken sucht, man strebe allen Ernstes einen partnerschaftlichen Umgang mit den Staaten jener Weltregion an, die man wie eh und je als eigenen Hinterhof für sich reklamiert, was offen auszusprechen heutzutage natürlich höchst kontraproduktiv wäre.

Anmerkungen:

[1] Mexiko im Kriegszustand. Essay von Ignacio Ramonet zur Verfasstheit des mexikanischen Staates hundert Jahre nach der Revolution (04.12.10)
http://amerika21.de/analyse/17579/mexiko-im-kriegszustand

[2] USA: Mexiko machtlos im Kampf gegen Drogenkartelle (03.12.10)
http://www.cio.de/news/wirtschaftsnachrichten/2257160/

[3] USA wollen Einfluss in Mexikos Armee. WikiLeaks und Lateinamerika: Washington verfolgt strategisches Projekt in südlichem Nachbarstaat. Konflikt mit militärischen Traditionalisten (06.12.10)
http://amerika21.de/nachrichten/2010/12/17607/usa-wollen-einfluss-mexikos

6. Dezember 2010