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LATEINAMERIKA/2449: Dilma Rousseff tritt das Präsidentenamt an (SB)


Lulas letzte Amtshandlung - Auslieferung Battistis abgelehnt


Luiz Inácio Lula da Silva hat das Präsidentenamt in Brasilien an Dilma Rousseff übergeben, die als erste Frau die Geschicke des aufstrebenden südamerikanischen Schwellenlandes in führender Position lenken wird. Die neue Staatschefin hat neun Frauen in ihr Kabinett von 37 Ministern berufen, das damit den höchsten Frauenanteil in der brasilianischen Geschichte aufweist. [1] Im Kielwasser ihres Vorgängers und politischen Ziehvaters, der nach acht Jahren mit einer außergewöhnlich hohen Zustimmung von 87 Prozent aus dem Amt schied, gewann die vor ihrer Kandidatur wenig bekannt frühere Energieministerin und Stabschefin zunehmend an Popularität. Die 63jährige wurde Ende Oktober mit 56 Prozent gewählt, wobei jüngsten Umfragen zufolge inzwischen mehr als zwei Drittel der 190 Millionen Brasilianer erwarten, daß sie eine gute oder sogar sehr gute Präsidentin sein wird. [2]

Wie vor ihr Luiz Inácio Lula da Silva erklärte auch Dilma Rousseff die Armutsbekämpfung zum obersten Gebot. Der hartnäckigste Kampf ihrer Regierung gelte dem Ziel, die absolute Armut abzuschaffen, verschrieb sie sich einer Herkulesarbeit, da ungeachtet umfangreicher Sozialprogramme in den vergangenen Jahren noch immer 18 Millionen Brasilianer im Elend leben. Offiziellen Angaben zufolge sind seit 2003 gut 20 Millionen Menschen in die Mittelschicht aufgestiegen, wobei es nicht an kritischen Stimmen fehlt, die diese weithin kolportierte Erfolgsbilanz skeptisch bewerten. Rousseff kündigte an, sie wolle den Sozialstaat mit öffentlicher Altersvorsorge und Basisdiensten für alle ausbauen. Brasilien hat ihren Worten zufolge die Voraussetzungen geschaffen, eine der "am meisten entwickelten Nationen mit den geringsten sozialen Unterschieden zu werden, ein Land mit einer soliden Mittelschicht voller Tatendrang".

Brasilien hat die weltweite Systemkrise der kapitalistischen Verwertung bislang vergleichsweise gut bewältigt, da die Kombination einer nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik mit wachsenden Staatsausgaben zu einem soliden Wirtschaftswachstum und insbesondere sinkender Arbeitslosigkeit geführt hat. Das größte Land Lateinamerikas erlebt einen regelrechten Boom und dürfte nach rund 7,5 Prozent Wachstum im vergangen Jahr auch 2011 einen erneuten Anstieg des Bruttoinlandsprodukts von geschätzten 4,5 Prozent verzeichnen.

Da die Preise der meisten agrarischen und industriellen Rohstoffe, die Brasilien exportiert, im abgelaufenen Jahr erheblich gestiegen sind und 2011 ein erneuter Anstieg erwartet wird, dürften die Erlöse der Ausfuhr von Soja und Mais, Kaffee, Baumwolle, Orangensaft und Zucker wie auch Eisenerz weiter wachsen. Auch für den Konsum im eigenen Land prognostiziert man dank historisch niedriger Arbeitslosigkeit und steigenden Löhnen einen stabilen Verlauf, so daß beide tragenden Säulen der Konjunktur einen gefestigten Eindruck machen.

Die Präsidentin unterstrich, daß Stabilität mit ausgeglichenem Haushalt und niedriger Inflation für sie "ein absoluter Wert" bleibe. Da die Inflation auf 5,6 Prozent angestiegen ist, soll in der ersten Januarhälfte ein Sparprogramm für den öffentlichen Haushalt vorgelegt werden. Auch eine Beschränkung der Konsumkredite mittels einer Leitzinserhöhung der Zentralbank steht zu erwarten.

Rousseff hat deutlich hervorgehoben, daß sie stärker als ihr Vorgänger private Investoren aus dem In- und Ausland am Aufbau der Infrastruktur des Landes beteiligen will. Auf langfristige Investitionen von Unternehmen werden bereits seit Dezember deutlich weniger Steuern erhoben. Zwar wird der Staat weiterhin an den meisten Projekten beteiligt sein, jedoch nur noch marginal.

Verbessert werden sollen nach den Worten der Präsidentin das Bildungs- und Gesundheitswesen wie auch die Sicherheitslage. Zugleich betonte sie, daß das dafür erforderliche Wachstum nicht auf Kosten der Umwelt gehen dürfe. Es sei die "heilige Mission" ihrer Regierung, "der Welt zu zeigen, daß ein Land rasch wachsen kann, ohne die Umwelt zu zerstören". Diesen offensichtlichen Widerspruch glaubt Rousseff zu lösen, indem Brasilien "Weltmeister der sauberen Energien" bleiben soll. Die in der Vergangenheit als Technokratin bekannte Politikerin, die nicht zuletzt höchst umstrittene Großprojekte durchsetzte, faßt neben Wind- und Solarkraft auch Agrotreibstoffe und Wasserkraft aus Großstaudämmen, mithin also unter umwelt- und sozialpolitischen Gesichtspunkten höchst zerstörerische Eingriffe unter die Rubrik angeblich sauberer Technologien.

Außenpolitisch wird Brasilien unter ihrer Führung den eingeschlagenen Kurs fortsetzen und die Annäherung an die Nachbarn in Südamerika wie auch den Multilateralismus favorisieren. Zu ihrer Amtseinführung waren Vertreter von fast 50 Ländern in die brasilianische Hauptstadt gereist, darunter mehr als 20 Staats- und Regierungschefs vor allem aus Lateinamerika und Afrika. Unter den Ehrengästen fanden sich unter anderen US-Außenministerin Hillary Clinton und Palästinenserpräsident Mahmud Abbas. Aus Südamerika kamen Hugo Chávez und Evo Morales, Bulgarien, das Herkunftsland ihres Vaters, entsandte Ministerpräsident Bojko Borissow. [3]

Als Stabschefin leitete und koordinierte sie seit 2005 die Regierungsarbeit der 38 Ministerien und stieg zur einflußreichsten Vertrauten Lulas auf. Die dabei unter Beweis gestellten Qualitäten wird Rousseff künftig bitter nötig haben, wenn es gilt, ihre fragile Koalition von zehn Parteien im Zaum zu halten. Schon jetzt fühlen sich ihre eigene Arbeiterpartei wie auch andere Partner unterrepräsentiert, weshalb ihr größtes Problem womöglich nicht die geschwächte Opposition, sondern das eigene Regierungsbündnis sein könnte.

Eine heikle Entscheidung hat Luiz Inácio Lula da Silva seiner Nachfolgerin abgenommen. In einer seiner letzten Amtshandlungen verweigerte er die Auslieferung des früheren Linksextremisten Cesare Battisti, der in Italien wegen mehrfachen Mordes verurteilt ist. Mit der Begründung, Battisti drohe wegen seiner Vergangenheit als politischer Aktivist in Italien eine "Verschärfung der Lage", folgte der scheidende Staatschef einer Empfehlung der Generalstaatsanwaltschaft.

Cesare Battisti hatte die Untergrundgruppe "Bewaffnete Proletarier für den Kommunismus" mitgegründet und soll Ende der 1970er Jahre an vier Morden in Italien beteiligt gewesen sein. Nachdem Kronzeugen gegen ihn ausgesagt hatten, wurde er in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt. Battisti bestreitet die Taten und hatte sich im Exil bereiterklärt, sich einem neuen Prozeß zu stellen, was Italien jedoch prinzipiell ablehnt. Nach dem Ausbruch aus einem italienischen Gefängnis fand Battisti jahrelang in Frankreich Asyl, wo ein Pariser Gericht 1991 seine Auslieferung nach Italien ablehnte. Als Frankreich 2004 sein Asyl aufhob, entkam Battisti über Umwege nach Brasilien. Der heute 56jährige wurde im März 2007 in Rio de Janeiro festgenommen und sitzt derzeit in Brasília im Gefängnis. [4]

In Italien schlug die Entscheidung Lulas hohe Wellen. Regierungschef Silvio Berlusconi erklärte zunächst zynisch, bei so einem wie Battisti sei es ja fast besser, ihn nicht im eigenen Land zu haben, wo er den Staat im Gefängnis auch noch Geld koste. Auf Druck der von den Medien geschürten Empörung schwenkte er kurzentschlossen um und verkündete "mit tiefster Bitterkeit", der Fall sei nicht abgeschlossen. Italien werde alles tun, um sein Recht auf Auslieferung in allen Instanzen geltend zu machen. Verteidigungsminister Ignazio La Russa erklärte, eine Nicht-Auslieferung sei "ungerecht und sehr beleidigend". Nun sei das "schlimmste Szenario" eingetreten. Nach Konsequenzen befragt, erklärte der Minister, er persönlich würde niemandem raten, ein Land zu besuchen, in dem Mörder frei herumlaufen können. Staatspräsident Giorgio Napolitano nannte Lulas Entscheidung "unverständlich" und "bitter". Man könne nur auf ein ernsthaftes Überdenken des Beschlusses durch die Zuständigen in Brasilien hoffen.

Als erste Reaktion beorderte Rom seinen Botschafter aus Brasília zurück. Wie das italienische Außenministerium zur Begründung anführte, wolle man über rechtliche Schritte beraten, um die auf einem bilateralen Abkommen und der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs in Brasilien basierenden rechtmäßigen Ansprüche Italiens zu verteidigen. Die Regierung Berlusconi kündigte wirtschaftliche und rechtliche Konsequenzen an. Außenminister Frattini erklärte, die im Januar geplante Verabschiedung eines strategischen Handelsabkommens werde auf Eis gelegt. Damit schneidet sich Italien allerdings vor allem ins eigene Fleisch, da die Lieferung von Schiffen, Radaranlagen und Raketen im Wert von rund fünf Milliarden Euro nach Brasilien ausgesetzt wird. [5]

Der jüngsten Entscheidung Lulas ging ein fast zweijähriges Tauziehen voraus. Anfang 2009 hatte der damalige brasilianische Justizminister Battisti politisches Asyl gewährt und dies damit begründet, daß eine politische Verfolgung in Italien nicht ausgeschlossen werden könne. Im November 2009 sprachen sich die Richter des Obersten Gerichtshofs in Brasilien mehrheitlich für eine Auslieferung nach Italien aus, doch hatte der Präsident das letzte Wort und verweigerte sich diesem Ansinnen. Im Februar 2010 wurde Battisti von einem Gericht in Rio de Janeiro wegen eines Paßvergehens zu zwei Jahren in offenem Vollzug verurteilt. Diese Strafe endet im Februar 2011, sofern der Oberste Gerichtshof nicht beschließt, daß eine Freilassung dem Auslieferungsabkommen mit Italien widerspricht.

Anmerkungen:

[1] Dilma Rousseff übernahm Lulas Schärpe. Brasilien wird erstmals in seiner Geschichte von einer Frau regiert (03.01.11)
http://www.neues-deutschland.de/artikel/187663.dilma-rousseff-uebernahm-lulas-schaerpe.html

[2] Brasilien. Präsidentin Rousseff setzt auf private Investoren (03.01.11)
http://www.handelsblatt.com/politik/international/brasilien-praesidentin-rousseff-setzt-auf-private-investoren;2722621;3

[3] Neue Ära in Brasilien: Erste Präsidentin im Amt (02.01.11)
http://newsticker.sueddeutsche.de/list/id/1090566

[4] Italien empört: Brasilien lehnt Auslieferung Battistis ab (01.01.11)
http://www.greenpeace-magazin.de/index.php?id=55&tx_ttnews%5Btt_news%5D=95693&tx_ttnews%5BbackPid%5D=23&cHash=905ae17190

[5] Streit um Auslieferung. Italien stoppt Abkommen mit Brasilien (02.01.11)
http://derstandard.at/1293369798699/Streit-um-Auslieferung-Italien-stoppt-Abkommen-mit-Brasilien

3. Januar 2011