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MILITÄR/827: Kriegspropaganda vor dem NATO-Gipfel in Lissabon (SB)


Bundeswehr stimmt in den Chor der Siegesmeldungen ein


Kriegsberichterstattung aus Afghanistan als ideologisch hoch aufgeladene Propagandainszenierung bedient die strategischen und taktischen Erfordernisse an der Heimatfront. Was vom Hindukusch berichtet und in welchem Lichte es präsentiert wird, deckt sich mit der jeweils aktuellen Etappe deutscher Kriegsbeteiligung, deren Legitimation gegen die um sich greifende Kriegsmüdigkeit der Bundesbürger durchgefochten wird. Das gilt um so mehr im Vorfeld des NATO-Gipfels in Lissabon, auf dem sich das nordatlantische Bündnis einen neuen strategischen Maßanzug verpassen will, nachdem der alte seinen ambitionierten globalen Interventionsplänen zu eng geworden ist.

Journalistische Handlangerdienste verrichten einheimische Medien wie der NDR, der den Radiohörern heutigen Tages in seiner morgendlichen Info-Sendung erstaunliche Impressionen aus deutschem Feldlager in Nordafghanistan auf den Frühstückstisch zu legen wußte. Hörte man in der Vergangenheit allzu oft, die Bundeswehrsoldaten verschanzten sich in ihren befestigten Stellungen und wagten sich allenfalls sporadisch in gepanzerten Fahrzeugen hinaus, so war nun von Lagerfeuerromantik die Rede, die man sich gönne, weil die Taliban vertrieben seien. Sollte es tatsächlich gelungen sein, einen Flecken Landes dauerhaft zu okkupieren, was den Besatzungsmächten selbst mit vereinten Kräften seit neun Jahren nicht gelungen ist?

Jawohl, sagt Generalmajor Hans-Werner Fritz, Kommandeur der Internationalen Schutztruppe ISAF für den Norden, in Masar-i-Scharif. Die Bundeswehr habe bei ihrer Offensive gegen die Taliban die Aufständischen in der Tat aus dem gefährlichsten Distrikt Nordafghanistans zu großen Teilen verdrängt. Es gebe nun auch in Char Darah "Räume, aus denen die Taliban weitestgehend raus sind". Wie man dazu wissen muß, liegt Char Darah westlich des deutschen Feldlagers in der Provinz Kundus und stand lange unter weitgehender Kontrolle des afghanischen Widerstands. Ein Sprecher der Bundeswehr präzisierte in Kundus die jüngste Erfolgsmeldung dahingehend, daß die Taliban bei der jüngsten Operation aus dem südlichen Teil des Distrikts verdrängt worden seien, während sich im Norden Char Darahs weiterhin Aufständische befänden. [1]

Für die deutsche Kriegsführung ist diese Region außerordentlich brisant, da die Bundeswehr dort im September 2009 zwei von Aufständischen entführte Tanklaster bombardieren ließ. Dabei kam es zu einem Massaker, bei dem weit über hundert Menschen getötet oder verletzt wurden. Am Karfreitag starben in der Gegend drei deutsche Soldaten bei Gefechten mit den Taliban. Will man Erfolge vorweisen, bietet sich angesichts solcher desaströsen Zwischenfälle dieser Distrikt wie kein zweiter an.

Man ging Ende Oktober gemeinsam mit belgischen und US-amerikanischen Truppen wie auch der afghanischen Armee im Süden besagten Distrikts in die Offensive, wobei die Bundeswehrführung trotz belasteter deutscher Vergangenheit nichts dabei fand, die Operation "Halmasag" (Blitz) anzuführen. Rund 480 Soldaten waren an den schweren Kämpfen beteiligt, die sich über vier Tage hinzogen. Die Deutschen setzten schwere Artillerie ein, forderten mehrfach Luftunterstützung an und hielten ihre Blessuren mit zwei Leichtverletzten in Grenzen. Manche Aufständische wechselten im Verlauf des Gefechts die Seiten, mehrere Taliban wurden getötet. Dann erklärte ein Sprecher der Bundeswehr den militärischen Teil der Operation "Halmasag" für beendet.

War sie ein Erfolg? Wie man nach neun Jahren Afghanistankrieg wissen sollte, haben sich territorial definierte Siegesmeldungen in aller Regel als Fehleinschätzung erwiesen. Die unzulässigerweise pauschal als "Taliban" in das Klischee eines überstrapazierten Feindbildes gepreßten Gegner haben sich bislang stets zurückgezogen, wo ihre weit unterlegene Bewaffnung einer Frontaloffensive der Besatzungstruppen nicht gewachsen war, und ihre Aktivitäten in andere Landesteile verlagert. Auch ist bekannt, daß die Angriffe des Widerstands in den Wintermonaten abzuflauen pflegen, doch im folgenden Frühjahr um so stärker in Erscheinung treten. Zudem wurde erst vor wenigen Tagen bei einem Sprengstoffanschlag auf den Bürgermeister der Stadt Kundus dessen Bruder und ein Kandidat für die Parlamentswahl getötet. Bürgermeister Mullah Mohammad Farhad selbst und vier weitere Menschen trugen den Angaben zufolge Verletzungen davon. Woran will man also bemessen, daß die Operation in Char Darah mehr als ein weiteres Strohfeuer mit befristeter Wirkung war?

Im Hauptquartier der ISAF führt man als Beleg die Aufgabe einer seit langem existierenden Stellung der Bundeswehr an, da der "Sicherheitskreis weiter gezogen werden konnte". "Ich glaube, daß wir da gute Fortschritte gemacht haben", meint Generalmajor Fritz mit Blick auf den Norden des Landes. Zwar mußte er einräumen, daß die Sicherheitslage "unverändert angespannt" sei und die Zahl der Anschläge und Gefechte in diesem Jahr sogar deutlich gestiegen ist. Das sei darauf zurückzuführen, daß man die Stärke der internationalen Truppen seit dem Frühjahr verdoppelt habe und nun in Bereiche hineingehen könne, die man zuvor meiden mußte. Daß sich die Taliban wehrten, sei doch eine "ganz normale Reaktion".

Soll die Eskalation des Krieges ein Indiz für Erfolge auf dem Weg zum Frieden sein? Der deutsche ISAF-Kommandeur für den Norden stimmt in den Chor der Militärs und Politiker ein, die in den vergangenen Wochen verstärkt von Fortschritten in Afghanistan berichtet haben. Je näher der NATO-Gipfel rückte, desto sonniger wurde das Gemüt. Brigadegeneral Fritz versäumt es nicht darauf hinzuweisen, daß die Konferenz in Lissabon eine "ganz, ganz entscheidende Weichenstellung" für die Übergabe der Verantwortung an die afghanische Armee und Polizei sei. Dieses Vorhaben ist zwar beinahe so alt wie der Krieg in Afghanistan, doch wer wollte es den Militärs verdenken, wenn sie die neue NATO-Doktrin unabweislicher weltweiter Dominanz, der sich alle anderen Bündnisse und Institutionen unterzuordnen hätten, nicht auf dem Präsentierteller servieren! Der NDR jedenfalls ist's zufrieden und speist seine morgenmuffelige Zuhörerschaft lieber mit deutschen Würstchen und amerikanischen Hamburgern ab, die sich die Helden der verbündeten Kontingente in soldatischer Eintracht am Lagerfeuer braten.

Anmerkungen:

[1] ISAF-Truppen melden Erfolge. Taliban aus der südlichen Provinz Kundus verdrängt (17.11.10)
Neues Deutschland

17. November 2010