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MILITÄR/875: Rüstungsabkommen zwischen Rußland und USA in Gefahr (SB)


Rüstungsabkommen zwischen Rußland und USA in Gefahr

Washington unterstellt Moskau Verstoß gegen INF-Vertrag



Als Syrien im vergangenen September mit Hilfe Rußlands zum Verzicht auf sein Chemiewaffenarsenal veranlaßt wurde und dadurch ein angedrohter Raketenangriff der USA auf die syrischen Streitkräfte vermieden werden konnte, feierte man dies als Erfolg der abrüstungspolitischen Zusammenarbeit zwischen Washington und Moskau. Das gleiche geschah im November, als der Iran mit den fünf ständigen UN-Vetomächten - China, Frankreich, Großbritannien, Rußland und den USA - plus Deutschland ein Interimsabkommen abschloß, das den Weg zur Beilegung des jahrelangen Streits um das iranische Atomprogramm eröffnete. Nur wenige Monate später sieht die Welt ganz anders aus. Vor dem Hintergrund des erbitterten Ringens zwischen Rußland und den NATO-Mächten um Einfluß in Syrien und der Ukraine gerät besagte abrüstungspolitische Zusammenarbeit in Gefahr. Die USA unterstellen Rußland, mit der Durchführung mehrerer Testflüge seit 2008 gegen den 1987 im Weißen Haus von Ronald Reagan und Michail Gorbatschow unterzeichneten INF-Vertrag zur Vernichtung und zum Verbot nuklearer Raketen mittlerer Reichweite verstoßen zu haben.

Die vermeintlichen russischen Verstöße gegen den INF-Vertrag machte die New York Times unter Verweis auf die Angaben nicht namentlich genannter Vertreter der Regierung Barack Obamas am 30. Januar publik. Demnach handelt es sich um Testflüge einer zweistufigen Rakete vom Typ RS-26, die sowohl in einer Langstrecken- als auch in einer Mittelstreckenversion entwickelt wird. Nur letztere würde gegen den INF-Vertrag verstoßen. Da nicht ganz klar ist, welche Version getestet wurde, ist auch nicht sicher, ob Rußland gegen den INF-Vertrag verstoßen oder diesen nur umgangen hat. Trotzdem sind die Kriegsfalken im US-Kongreß, die in den vergangenen Monaten von Rose Goettemoeller, der im Außenministerium für Rüstungskontrolle und internationale Sicherheit zuständigen Staatssekretärin, über die russischen Aktivitäten informiert wurden, in heller Aufregung. 17 republikanische Senatoren bereiten ein Gesetz vor, das das Weiße Haus dazu zwingen soll, die Verdachtsmomente gegen Rußland öffentlich zu machen, was natürlich schwere negative Folgen für die bilateralen Beziehungen hätte. Bei einem Treffen am 17. Januar in Brüssel hinter verschlossenen Türen hat Goettemoeller ihre NATO-Kollegen über den Stand der Dinge in Kenntnis gesetzt.

Im Kreml dürfte man eine ganz andere Sicht auf die Entwicklung haben. Der INF-Vertrag hat die Sowjetunion und danach Rußland zu weit größeren Abrüstungschritten als die USA, die keine feindlichen Staaten an ihren Landesgrenzen haben und sich im nuklearen Bereich hauptsächlich auf Langstreckenraketen stützen, genötigt. Entgegen anderslautender Zusagen des Westens in Verbindung mit dem 1990 vereinbarten Zwei-plus-Vier-Vertrag über die Wiedervereinigung Deutschlands hat sich die NATO später auf die Länder Osteuropas, einschließlich des Baltikums, ausgebreitet. Bis heute halten die USA und ihre Verbündeten am Aufbau eines umstrittenen Raketenabwehrsystems in Europa fest, das vordergründig gegen den "Schurkenstaat" Iran, tatsächlich aber gegen Rußland gerichtet ist. Sonst ist nicht zu erklären, warum sich Washington trotz mehrmaliger Aufforderung Moskaus weigert, eine Erklärung abzugeben, wonach das System niemals gegen Rußland eingesetzt wird.

Als die Russen nach der Unterzeichnung des Interimsabkommens mit dem Iran im November angeregt haben, die NATO könnte, angesichts der Aussicht auf eine endgültige Beilegung der Konfrontation zwischen den USA und dem Iran, auf die Installierung des Raketenschirms verzichten, wurde der Vorstoß Moskaus von der westlichen Diplomatie vollkommen ignoriert. Statt dessen hat Obamas Verteidigungsminister Chuck Hagel am 1. Februar bei seinem Auftritt auf der Münchener Sicherheitskonferenz die Stationierung eines ersten Lenkwaffenzerstörers, der USS Donald Cook, im südspanischen Marinestützpunkt Rota bekanntgegeben (noch in diesem Jahr kommt ein weiteres, mit dem Aegis-System ausgerüstetes Kriegsschiff hinzu; 2015 sollen zwei weitere folgen). Der ehemalige republikanische Senator aus Nebraska führte die Implementierung der ersten Phase der European Phased Adaptive Approach (EPAA) - zu den Phasen II und III gehören die geplante Stationierung weiterer SM-3-Abfangraketen in Polen und Rumänien - auf eine von Washington postulierte, "vom Iran ausgehende Bedrohung durch ballistische Raketen" zurück. Gleichzeitig brachte Hagel den weiteren Ausbau der "Raketenabwehrarchitektur" der NATO in Europa mit den Aktivitäten Rußlands und Chinas in Verbindung. Beide Staaten würden "ihre Militärs und ihre globalen Rüstungsindustrien rasch modernisieren" und dadurch "den technologischen Vorsprung" und die "Verteidigungspartnerschaften" der USA "rund um die Welt herausfordern".

In nicht allzu ferner Zukunft könnte der Geduldsfaden Rußlands angesichts der Selbstherrlichkeit der USA und der NATO reißen. Entsprechend äußerte sich Michail Uljanow, der im russischen Außenministerium zuständige Staatssekretär für Sicherheit und Abrüstung, in einer am 2. Februar veröffentlichen Meldung der Nachrichtenagentur Interfax. "Wir machen uns Gedanken darüber, daß die USA ohne Rücksicht auf die Interessen und Befindlichkeiten Rußlands ihre Raketenabwehrfähigkeit ständig ausbauen. Eine solche Politik kann die strategische Stabilität unterminieren und zu einer Situation führen, in der sich Rußland gezwungen sieht, von seinem Recht auf Rückzug aus dem START-Abkommen Gebrauch zu machen", so Uljanow. Er erinnerte daran, daß die russische Seite bei der Unterzeichnung des New-START-Vertrages im Mai 2010 durch Obama und Rußlands damaligen Präsidenten und heutigen Premierminister Dmitri Medwedew "explizit erklärt" habe, daß Moskau im Falle einer akuten Gefährdung der eigenen Atomstreitkräfte durch das US-Raketenabwehrsystem das Abkommen aufkündigen würde.

Uljanow brachte die Hoffnung der Kreml-Führung zum Ausdruck, daß es hierzu nicht kommt und daß Rußland und den USA die Umsetzung des START-III-Vertrages, der eine Reduzierung der Atomsprengköpfe beider Seiten von 2200 auf je 1500 und der Trägersysteme von 1600 auf je 800 vorsieht, wie geplant bis 2018 gelingen wird. Leider deutet alles in die entgegengesetzte Richtung. In den USA bezichtigen die Republikaner den flüchtigen NSA-Whistleblower Edward Snowden, ein Spion Moskaus zu sein und fordern seine Ausweisung aus Rußland. In Syrien halten die USA am angestrebten "Regimewechsel" fest und haben bei den jüngsten Friedensgesprächen in Genf die Bemühungen um eine Aussöhnung zwischen der Opposition und der Regierung um Präsident Baschar Al Assad mit einseitigen Bedingungen torpediert.

Gleichzeitig unterstützen die USA und die EU die Dauerproteste pro- westlicher Kräfte in der Ukraine in der Hoffnung, das Nachbarland Rußlands ins westliche Lager und aus der russischen Einflußsphäre zu ziehen. In der Ukraine-Krise steht die Stellung Rußlands als Großmacht auf dem Spiel. Da ist es nicht verwunderlich, wenn bereits Gerüchte kursieren, denen zufolge Wladimir Putin nach Ende der olympischen Spiele in Sotschi die pro-russische Osthälfte der Ukraine, einschließlich des Donez-Beckens und der Halbinsel Krim, von russischen Streitkräften besetzen lassen könnte, ähnlich wie es Moskau 2008 während des Georgien-Krieges mit Abchasien und Südossetien getan hat. Die Tatsache, daß am 1. Februar auf der Website des Börsen- Onlinedienstes Zero Hedge unter Verweis auf entsprechende Spekulationen des russischen Ökonomen und Ex-Putin-Beraters Andrej Illarjonow ein solches Szenario erörtert wurde und daß am 4. Februar aus der Feder des Yale-Historikers Prof. Timothy Snyder ein Gastkommentar in der International New York Times mit der hysterischen Überschrift "Don't Let Putin Grab Ukraine" ("Laßt Putin die Ukraine nicht schnappen") erschienen ist, läßt eine baldige Eskalation des niemals wirklich zu Ende gegangenen Kalten Krieges befürchten.

4. Februar 2014