Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

MILITÄR/886: Israel spielt die Raketengefahr aus Gaza hoch (SB)


Israel spielt die Raketengefahr aus Gaza hoch

Die "existentielle Bedrohung" der Hamas existiert nicht



Israel begründet seine Militäroperation Protective Edge mit der Bedrohung, die von den ballistischen Raketen der Hamas, des Islamischen Dschihads und anderen militanten palästinensischen Gruppierungen im Gazastreifen ausgeht. Die Politiker des Westens, allen voran US-Präsident Barack Obama, erkennen öffentlich das Recht Israels an, sich gegen diese Bedrohung zu verteidigen. Inzwischen geht Operation Protective Edge in den zwölften Tag. Bisher wurden etwas mehr als 1500 Raketen von Gaza auf Israel gefeuert, ohne daß dadurch nur ein einziger Israeli ums Leben kam. Die zwei einzigen bisherigen Opfer auf israelischen Seite sind ein Soldat, der fälschlicherweise von den eigenen Kameraden erschossen wurde, und ein Zivilist, der bei einem Besuch der Truppe in Grenznähe von einer palästinensischen Mörsergranate getroffen wurde. Dagegen sind mehr als 300 Palästinenser von den israelischen Streitkräften getötet und Tausende verletzt worden. Mehr als 70 Prozent der Opfern sind Zivilisten, die meisten von ihnen Frauen und Kinder. Israel setzt nicht nur Raketen, sondern auch große Bomben und Artilleriegranaten ein. Letztere werden von Schiffen oder von Panzern aus auf Ziele im Gazastreifen abgefeuert. Am 18. Juli zum Beispiel kamen acht Mitglieder einer palästinensischen Familie ums Leben, als ein Artilleriegeschoß ihr Haus dem Erdboden gleichmachte.

Der bisherige Verlauf von Operation Protective Edge läßt also nicht nur die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der israelischen Vorgehensweise aufkommen, sondern auch nach der Effektivität der palästinensischen Raketen bzw. nach der tatsächlichen Existenz der von Premierminister Benjamin Netanjahu postulierten Bedrohung, die derart existentiell sein soll, daß man quasi einen Krieg gegen die eineinhalb Millionen Bewohner des kleinen Gazastreifens entfachen muß.

Israels Militär und Medien vermitteln den Eindruck, die geringe Erfolgsquote des palästinensischen Raketenfeuers wäre auf den Erfolg des israelischen Raketenabwehrsystems Iron Dome zurückzuführen. Dies stimmt aber nicht. Wie die New York Times am 18. Juli unter der Überschrift "From Gaza, an Array of Makeshift Rockets Packs a Counterpunch" berichtete, hatte das israelische Militär bis zur Nacht des 17. Juli 1500 Raketen gezählt, die in den vorangegangenen zehn Tagen von Gaza aus auf Israel abgefeuert worden waren. Nach Angaben des von der NYT zitierten israelischen Militärsprechers waren 1100 Raketen auf Israel heruntergegangen; Iron Dome hatte bei einer Erfolgsquote von 85 Prozent weitere 300 abgefangen. Die restlichen Geschosse waren entweder über Gaza oder dem Mittelmeer heruntergekommen.

Man kann davon ausgehen, daß Iron Dome gegen diejenigen palästinensischen Raketen eingesetzt wird, welche die größte Gefahr für die israelischen Bevölkerungszentren darstellen, und daß die meisten Raketen aus Gaza offenbar über offenem Gelände heruntergekommen sind. Nach wie vor gibt es unter Experten große Zweifel hinsichtlich der Funktionstüchtigkeit von Iron Dome. Die Einschätzungen von Theodore Postol, Physiker am Massachusetts institute of Technology (MIT), der sich in der Vergangenheit als scharfsinniger Kritiker sowohl der amerikanischen Patriot-Rakete, als auch des Systems National Missile Defense (NMD) des Pentagons und von Iron Dome hervorgetan hat, fanden am 16. Juli breiten Raum in der Onlinezeitung Christian Science Monitor. Dort hieß es:

Er [Postol] sagt, daß die niedrigen Verlustzahlen bei den Israelis nicht auf Iron Dome, sondern auf die geringe Sprengstoffmenge in den Raketen und das hervorragende Frühwarnsystem und Netzwerk an Luftschutzbunkern zurückzuführen ist. Das Argument ist nicht nur von akademischem Interesse. Die USA haben seit 2011 721 Millionen Dollar in das System [Iron Dome] investiert und gestern hat ein Unterausschuß des Senats die Ausgaben für das Programm auf 350 Millionen Dollar im kommenden Fiskaljahr fast verdoppelt. Postol argumentiert, daß das verschwendetes Geld ist, denn die Nutzlast der Raketen aus Gaza sind derart klein (zwischen einem und 30 Kilogramm Sprengstoff im Vergleich zu 500 Kilogramm in den israelischen Bomben), daß sie bei den Luftschutzbunkern keine Schäden anrichten können (Bunker wären gegen schwere Artillerie, wie man sie im israelischen Arsenal findet, weit weniger effektiv). "Dies zeigt, daß die geringe Größe der Raketensprengköpfe und die Fähigkeit, die Bevölkerung rechtzeitig vor der Ankunft dieser keinen Sprengköpfe zu warnen, ein extrem wirksamer Schutz ist, der weit effektiver als Iron Dome funktioniert", so Postol.

Bereits vor einer Woche war Postol mit seiner Skepsis in Bezug auf die offizielle Erfolgsquote von Iron Dome im Rahmen von Operation Protective Edge an die Öffentlichkeit gegangen. In einem Artikel für die MIT Technology Review hatte er anhand von Nachrichtenbildern behauptet, die Abfangraketen würden die palästinensischen Raketen nicht treffen, sondern lediglich in deren Nähe explodieren und sie dadurch lediglich aus der Bahn bzw. frühzeitig zum Abstürz bringen; der eigentliche Sprengkopf bliebe bis zum Aufschlag unbeschädigt. Unterstützung für seine, aus Sicht der Rüstungsindustrie ketzerischen Ideen erhält Postol von dem israelischen Raketenexperten Dr. Moti Shefer. Der für seine Arbeit mit dem Israel Defense Prize ausgezeichnete Luft- und Raumfahringenieur gab vor einigen Tagen dem israelischen Sender Radio 103 ein Interview, das wegen seiner vernichtenden Kritik an Iron Dome hohe Wellen in Israel schlug. Höhepunkt von Shefers Erläuterungen waren Sätze wie diese:

Wir beschießen uns selbst, hauptsächlich virtuell. Die virtuelle Rakete wurde erfunden, um die Unbestimmtheit um Iron Dome zu vergrößern. Nehmen wir einmal an, daß sich eine echte Rakete im Anflug befindet. Was macht das Zielführungssystem? Es kreiert neun weitere virtuelle Raketen und gibt deren Flugbahnen per Computergrafik an die Abschußoperateure. Die Abschußoperateure sehen zehn Raketen und schicken zehn Iron-Dome-Abfangraketen hoch. Die Menschen hören zehn Explosionen, eine Rakete fällt vom Boden. So schafft man eine Erfolgsquote von 90 Prozent. ... Es gibt auf der Welt keine Rakete, die in der Lage ist, eine andere Rakete abzufangen. Iron Dome ist eine Licht- und Tonschau, die lediglich die öffentliche Meinung in Israel ... abfängt. In der Tat sind die Explosionen, die man am Himmel beobachtet, Selbst-Explosionen. Keine Iron-Dome-Rakete ist jemals mit einer anderen Rakete kollidiert...

Nicht zu vergessen ist gleichwohl die Effektivität von Iron Dome, wenn es darum geht, den US-Kongreß zu umfangreicher Rüstungs- und Finanzhilfe für Israel zu veranlassen. Als das Senate Appropriations Defense Subcommittee am 15. Juli weitere 621,6 Million Dollar für das israelische Raketenabwehrsystem, davon 351 Million für Iron Dome, bewilligte, stellte Ausschußvorsitzender Dick Durbin mit Blick auf die Vorgänge um Gaza selbstzufrieden fest: "Es funktioniert." Offenbar weiß Obamas demokratischer Parteikollege aus Illinois etwas, was Fachleute wie Postol und Shefer nicht wissen, nämlich wie Außen- und Sicherheitspolitik gemacht wird.

19. Juli 2014