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MILITÄR/888: Streit zwischen USA und Rußland um Abrüstungsabkommen (SB)


Streit zwischen USA und Rußland um Abrüstungsabkommen

Der neue Kalte Krieg läßt Abrüstungsträume platzen



In einem von der US-Botschaft in Moskau am 28. Juli dem Kreml zugestellten Brief Barack Obamas an Wladimir Putin werfen die USA Rußland vor, gegen den Intermediate-Range Nuclear Forces Treaty, der die Erforschung, den Besitz und die Indienststellung von ballistischen Raketen und Marschflugkörpern mit einer mittleren Reichweite zwischen 500 und 5.500 Kilometer verbietet, verstoßen zu haben. Damit hat der neue Kalte Krieg, den die Welt infolge der anhalten Krise in der Ukraine erlebt, einen gefährlichen Höhepunkt erreicht. Die Tatsache, daß Obama in seinem Brief an Putin den Willen der USA zur abrüstungspolitischen Zusammenarbeit mit Rußland bekräftigt hat, beruhigt keineswegs. Denn wegen des Ostwärtsdrangs der NATO befinden sich die USA und Rußland, die zusammen über genügend Atomwaffen verfügen, um die gesamte Menschheit auszulöschen, weiterhin auf Kollisionskurs.

Die vermeintlichen Verstöße Rußlands gegen den INF-Vertrag, welche die New York Times unter Berufung auf Angaben nicht namentlich genannter Vertreter der Obama-Administration am 30. Januar publik machte, reichen ins Jahr 2008 zurück. In jenem Jahr haben die russischen Streitkräfte begonnen, eine zweistufige Rakete vom Typ RS-26 zu testen, die sowohl in einer Langstrecken- als auch in einer Mittelstreckenversion entwickelt wird. Nur letztere würde die Richtlinien des INF-Vertrages verletzen. Da nicht ganz klar ist, welche Version getestet wurde, soll in Washington lange Zeit nicht sicher gewesen sein, ob Rußland gegen den INF-Vertrag verstoße oder diesen nur umgehe. Das Principals Committee, dem der Präsident, die Außen- und Verteidigungsminister, der Nationale Sicherheitsberater, der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs und der CIA-Chef angehören, hat nun im Juli den Verstoß formell festgestellt.

Interessanterweise steht nicht die RS-26-Rakete, sondern der Marschflugkörper P-500 Basalt im Mittelpunkt der amerikanischen Kritik. Der P-500 ist eine Hyperschall-Lenkwaffe, die ursprünglich für den Kampf gegen gegnerische Kriegsschiffe entwickelt wurde. In jener Version trägt er einen 950 Kilogramm schweren Sprengkopf, der gehärteten Stahl durchbrechen kann. Nun werfen die USA Rußland vor, den P-500, der nur eine Reichweite von 550 Kilometer hat, in Kombination mit der Mittelstreckenrakete Iskander, dem Nachfolgemodell der Scud, getestet zu haben und unterstellen Moskau, die Indienstnahme dieser Waffe vorzubereiten. In dieser Kombination soll der P-500 angeblich mit einem 350 Kilogramm schweren Atomsprengkopf ausgerüstet werden, wodurch die meisten Hauptstädte der europäischen NATO-Mitgliedsländer in die Reichweite von einer ballistischen Rakete gerieten; das aus kurzer bis mittlerer Entfernung abgefeuerte Geschoß könne wegen der kurzen Flugzeit von dem westlichen Raketenabwehrsystem kaum abgefangen werden. Dies erklärt die aufgeregt klingenden Worten, mit denen am 29. Juli die New York Times den NATO-Oberkommandierenden General Philip M. Breedlove zitierte: "Die Einführung einer solchen gegen den INF-Vertrag verstoßenden Waffenfähigkeit auf der europäischen Landmasse ist ein großes Problem, gegen das wir etwas unternehmen müssen. So etwas darf nicht unbeantwortet bleiben."

Bekanntlich ist man im Kreml seit längerem mit dem INF-Vertrag, den Michail Gortbatschow und Ronald Reagan 1987 unterzeichneten, unzufrieden, denn er hat im Bereich der Mittelstreckenraketen zuerst die Sowjetunion und danach Rußland zu weit größeren Abrüstungschritten als die USA genötigt, die keine feindlichen Staaten an ihren Landesgrenzen haben und sich hauptsächlich auf Langstreckenraketen als nukleare Abschreckung stützen. Unter Verweis auf die Nachbarländer wie China, Nordkorea und Pakistan, die in unmittelbarer Nähe des russischen Staatsterritoriums Atomwaffen stationiert haben, drängt Moskau seit einiger Zeit auf eine Revidierung des Abkommens. In Reaktion auf den Brief Obamas hat die russische Seite den Ausbau des US-Raketenabwehrsystems in Europa, von dem einzelne Komponenten wie die Stationierung von Aegis-Lenkwaffenzerstörern im Schwarzen Meer Rußland in die Reichweite von amerikanischen Mittelstreckenraketen bringt, hervorgehoben.

Nach Bekanntwerden des Protestschreibens Washingtons an Moskau war in der Presse über einen möglichen Austritt Rußlands aus den INF-Vertrag spekuliert worden. Diese Gefahr scheint jedoch vorerst gebannt zu sein, nachdem am 31. Juli der russische Generalstabschef Valeri Gerasimow in einem Telefonat mit seinem amerikanischen Amtskollegen General Martin Dempsey den Willen Moskaus zur Einhaltung und Beibehaltung des Abkommens bekräftigt hat. Die Übereinstimmung auf der militärischen Ebene wird jedoch vom geopolitischen Ringen - siehe die anhaltenden Kämpfe in der Ostukraine, den Streit um die Bergung der Wrackteile des Malaysia-Air-Maschine MH17, die jüngsten Wirtschaftssanktionen der EU und der USA gegen Rußland und die allgemeine Dämonisierung Putins durch die westliche Presse - überschattet. Zusehends gerät Obamas erklärtes Ziel einer atomwaffenfreien Welt zu einer Fata Morgana.

2. August 2014