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MILITÄR/894: China rüstet seine nuklearen Streitkräfte auf (SB)


China rüstet seine nuklearen Streitkräfte auf

Konfrontation zwischen Peking und Washington erhöht Atomkriegsgefahr


Im Disput um die sich widersprechenden Gebietsansprüche im Südchinesischen Meer sind die USA und die Volksrepublik China weiterhin auf Kollisionskurs. Die Amerikaner werfen den Chinesen vor, durch den Ausbau mehrerer Riffe und kleiner Inseln der Spratly-Gruppe, auf die auch die Philippinen zum Teil Anspruch erheben, unnötige Spannungen zu erzeugen. Peking wehrt sich energisch gegen den Vorwurf und weist jede Kritik an den laufenden Infrastrukturarbeiten der chinesischen Marine auf den Spratly-Inseln als unzulässige Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Volksrepublik zurück. Der Besuch von US-Außenminister John Kerry am 16. Mai in der chinesischen Hauptstadt hat nicht zur Deeskalation des Streits beitragen können. In den Gesprächen haben der ehemalige Senator aus Massachusetts und Chinas Chefdiplomat Wang Yi lediglich ihre jeweiligen Positionen ausgetauscht; zu einer Annäherung ist es nicht gekommen. Auf der anschließenden Pressekonferenz erklärte Wang, "die Entschlossenheit" Chinas, seine "Souveränität und territoriale Integrität zu sichern", sei "so fest wie Stein".

Solche kategorischen Aussagen, hinter die Politiker später nicht zurück können, eignen sich dazu, eine rhetorische Bezichtigungsspirale voranzutreiben bzw. in Gang zu halten, die am Ende in einen Krieg mündet. Der sich zuspitzende Streit um das Südchinesische Meer birgt zweifelsohne die Gefahr einer verheerenden militärischen Auseinandersetzung in sich. Vordergründig geht es um einige Atolle und die Absicherung von Schiffsrouten, in Wirklichkeit prallen hier die Absicht Chinas, seine wachsende Macht regional zur Geltung zu bringen, und das Streben der USA, sich weiterhin überall auf dem Globus als Supermacht einzumischen, diametral aufeinander. Auch wenn man den Umgang der Volksrepublik mit den Nachbarländern Vietnam und den Philippinen im Inselstreit zweifelsohne als ruppig und vielleicht sogar als rücksichtslos bezeichnen kann, wären die Reaktionen in Washington ähnlich, würde China den USA im Golf von Mexiko Vorschriften machen und die Volksluftwaffe und -marine vor der Küste Floridas patrouillieren lassen.

Seit Hillary Clinton bei einem provokanten Auftritt auf dem ASEAN-Gipfel im Juli 2010 in Hanoi die freie Schiffahrt im Südchinesischen Meer zum "Nationalinteresse" der USA erhoben hat, steigen die Spannungen zwischen Washington und Peking kontinuierlich an. Die USA verlagern immer mehr Militärkapazitäten in den Westpazifik. Sie haben einen größeren Stützpunkt für ihre Luftwaffe und Marineinfanterie in unmittelbarer Nähe der nordaustralischen Stadt Darwin eingerichtet, Japan zur Aufgabe seiner pazifistischen Verfassung veranlaßt und ein weitgehendes Militärabkommen mit den Philippinen abgeschlossen. Ein Ergebnis der Umzingelungsstrategie Washingtons sind die ersten gemeinsamen japanisch-philippinischen Militärmanöver, die aktuell im Südchinesischen Meer stattfinden. Vor wenigen Tagen hat die Nachricht, das Pentagon plane, mehrere Langstreckenbomber vom Typ B-1 nach Darwin zu verlegen, eine aufgeregte Debatte in der australischen Öffentlichkeit ausgelöst. Schließlich ist das von Boeing hergestellte Hyperschallflugzeug B-1 Lancer für den Transport sowohl konventioneller als auch nuklearer Sprengkörper konzipiert.

Auch auf chinesischer Seite rüstet man sich eventuell für den atomaren Showdown, wie der Artikel "China Making Some Missiles More Powerful" von David Sanger und William Broad am 17. Mai in der New York Times zeigt. Im Mittelpunkt des beunruhigenden NYT-Beitrags stehen Erkenntnisse der US-Geheimdienste, wonach die Volksrepublik vor kurzem erstmals damit begonnen hat, ihre Interkontinentalraketen mit Mehrfachsprengköpfen zu versehen. Durch den Einsatz des Mehrfachsprengkörpers, auf Englisch "Multiple Independent Reentry Vehicle" oder "MIRV" genannt, kann man mit einer einzigen ballistischen Rakete mehrere Ziele gleichzeitig angreifen und das gegnerische Raketenabwehrsystem überfordern. Die Angaben über die Aufrüstung des chinesischen Atomwaffenarsenals entstammen laut Sanger und Broad dem diesjährigen Bericht des Pentagons bezüglich der militärischen Kapazitäten der Volksrepublik, den man Anfang Mai dem Kongreß in Washington hat zukommen lassen.

Angeblich verfügen die Chinesen bereits seit Anfang der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts über die notwendige Technologie - Stichwort Miniaturisierung - zum Bau von nuklearen Mehrfachsprengkörpern, haben jedoch rund zwanzig Jahre lang auf diesen Schritt verzichtet. Anlaß zu der Aufrüstung der chinesischen Nuklearstreitmacht soll die Entscheidung der Regierung von US-Präsident George W. Bush gewesen sein, unter dem Vorwand der angeblichen Bedrohung durch Nordkorea ab 2004 an der US-Pazifikküste ein bodengestütztes Raketenabwehrsystem zu installieren. Die mehr als 30 in Silos in Fort Greely in Alaska und auf dem Luftwaffenstützpunkt Vandenberg in Kalifornien stationierten Abfangraketen stellten Chinas Zweitschlagskapazität, mit der Peking jeden potentiellen Gegner von einem nuklearen Erstangriff abschrecken wollte, in Frage. Für die chinesische Führung war die Bedrohung inakzeptabel. Es mußte nachgerüstet werden und es wurde nachgerüstet. Die Zahl der chinesischen Interkontinentalraketen vom Typ Dong Feng 5 (DF-5) wird vom Pentagon auf 50 bis 75 geschätzt. Wie viele von ihnen mit einem MIRV aufgerüstet wurden, ist unklar.

Im NYT-Artikel wird Hans M. Kristensen, Leiter des Nuclear Information Project bei der Federation of American Scientists (FAS), dahingehend zitiert, daß die Entscheidung Chinas, nach so vielen Jahren seine Interkontinentalraketen mit Mehrfachsprengkörpern doch noch aufzurüsten, einen "schweren Rückschlag für die nukleare Zurückhaltung" darstelle. Derzeit steht es ohnehin sehr schlecht um die strategische Abrüstung. Wegen des anhaltenden Streits zwischen Washington und Moskau um die Ukraine hat das US-Repräsentantenhaus am 15. Mai mit 235 zu 182 Stimmen die Umsetzung des 2010 von Barack Obama und Dimitri Medwedew vereinbarten New-START-Abkommens, mittels dessen die USA und Rußland bis 2020 die Zahl ihrer Nuklearsprengköpfe von mehr als 2000 auf jeweils 1500 reduziert und die dazugehörigen Trägersysteme von 1600 auf 800 halbiert haben wollten, bis auf weiteres ausgesetzt.

19. Mai 2015


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