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MILITÄR/914: "Antiterrorkrieg" verkommt zur mörderischen Barbarei (SB)


"Antiterrorkrieg" verkommt zur mörderischen Barbarei

Stewart und McGurk reden der Ermordung von IS-Gefangenen das Wort


Nach dem Fall des irakischen Mossul im Juli und des syrischen Rakka vor drei Tagen existiert das Kalifat des Islamischen Staats, das Abu Bakr Al Baghdadi im Juni 2014 ausgerufen hat, als Landmasse auf der Karte nicht mehr. Da stellt sich die Frage, was aus den Angehörigen dieses Gebildes werden soll. Nun, ein Teil von ihnen geht sicherlich in den Untergrund, um an anderer Stelle - sei es im Kaukasus, im Nahen Osten, in Nordafrika, Süd- oder Zentralasien - den Kampf gegen die Ungläubigen fortzusetzen. Und die anderen, die sich vielleicht ergeben wollen? Geht es nach einigen führenden Vertretern des Westens, sollen diese Personen wegen der angeblichen Gefahr, welche sie für die Zivilisation darstellen, getötet werden.

In der Menschheitsgeschichte zeichnet sich nach der herkömmlichen Lesart die Trennlinie zwischen Zivilisation und Barbarei im Umgang mit dem besiegten Feind ab. Gnade walten zu lassen, etwa die Frauen und Kinder des geschlagenen gegnerischen Stamms oder Königreichs am Leben zu lassen und sie nicht zu malträtieren, galt stets als Ausweis von Güte und Gottgefälligkeit. Armeen, die zwischen Zivilisten und Kombattanten keinen Unterschied machten, etwa das Mongolenheer Genghis Khans im 12. Jahrhundert oder die Kreuzzügler nach der Einnahme Jerusalems 1303, gingen unabhängig allen Erfolges unweigerlich als blutrünstige Mörderbanden in die Geschichtsbücher ein. Bei der späteren Kodifizierung von Kriegsregeln, der Basis des heutigen internationalen Völkerrechts, hat man die Verschonung der Zivilbevölkerung und die humane Behandlung von Kriegsgefangenen oder -verletzen zum wichtigsten Prinzip erklärt. Deswegen gilt der vom Nazireich Adolf Hitlers im Zweiten Weltkrieg begangene Massenmord an den europäischen Juden als absolut verwerfliches Kriegsverbrechen, während ein ähnlicher Vorwurf an die Adresse der Angloamerikaner wegen der Flächenbombardierung deutscher Städte sowie des Abwurfs der beiden Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki im Sommer 1945 erhoben wird.

Den Begriff des "Terroristen" verwendet man für Personen und Gruppen, die Gewalttaten vornehmlich gegen zivile Ziele durchführen, um politische Ziele zu erreichen, etwa einen militärisch überlegenen Gegner zu einer Kurskorrektur - Kapitulation, Verhandlungen et cetera - zu veranlassen. Die Flugzeuganschläge vom 11. September 2001 in New York und Arlington mit rund 3000 Toten, die allermeisten von ihnen Zivilisten, waren auch in ihrer psychologischen Wirkung so verheerend, daß sich die politische Führung der USA damals entschlossen hat, die 9/11-Verantwortlichen nicht als herkömmliche Gegner, sondern als Unmenschen zu behandeln. Folglich sind seitdem Tausende tatsächlicher oder nur mutmaßlicher Mitglieder des Al-Kaida-"Netzwerks" Osama Bin Ladens verschleppt und gefoltert bzw. durch CIA-Drohnenangriffe einfach liquidiert worden. Es mußten keine Verdachtsmomente gefunden, geschweige dann vor Gericht auf ihre Verläßlichkeit überprüft werden. Vielmehr genügte zunächst der Befehl des Präsidenten, später allein das Ergebnis gewisser Algorithmen, um die Auslöschung einer Zielperson zu bewirken. Auf diese Weise haben die USA das in ihrer eigenen Verfassung verbriefte Recht auf Leben schlichtweg ausgesetzt, wie etwa die Liquidierung des "Radikalpredigers" Anwar Al Awlakis 2011 im Jemen zeigt.

Der Rückfall in die Barbarei, den der von George W. Bush bei seinem berühmten Auftritt am 14. September 2001 auf dem Trümmerberg der New Yorker Zwillingstürme verkündete "globale Antiterrorkrieg" eingeleitet hat, schreitet heute, 16 Jahre später, in Riesenschritten voran. Am 8. Oktober berichtete Martin Chulov in der britischen Sonntagszeitung The Observer über die schreckliche Lage von 1800 im Irak gestrandeten Frauen und Kindern von IS-Kämpfern. Die Männer und Väter dieser Personen sind entweder bei der Schlacht um Mossul gefallen oder untergetaucht. Häufig stammen die Frauen aus dem Ausland, doch heimkehren dürfen sie nicht. Ihre Herkunftsländer wollen sie nicht haben. Im Observer-Artikel zitiert Chulov einen nicht namentlich genannten britischen Regierungsbeamten mit der kategorischen Aussage, die offenbar die Stimmung in den anderen westlichen Ländern trifft: "Die Frauen, die sich entschieden haben, das Vereinigte Königreich zu verlassen und dorthin zu gehen, sind für ihr eigenes Handeln verantwortlich. Sie werden nicht heimkehren. Die Kinder dagegen haben Mitleid verdient."

Die Überlebenschancen solcher alleingelassenen ausländischen IS-Ehefrauen in der feindlichen Umgebung der kriegsgeplagten Staaten Irak und Syrien dürften bei Null oder nur knapp darüber liegen. Daher kommt die Weigerung, sie nach Hause zurückkehren zu lassen, so daß sie sich dort vielleicht um ihre Wiedereingliederung bemühen können, einem Todesurteil gleich. Angesichts derartiger Kaltherzigkeit überraschen die aktuellen Stellungnahmen führender Vertreter Londons und Washingtons zum Umgang mit kapitulationsbereiten ausländischen IS-Freiwilligen nicht im geringsten, sie erschrecken jedoch um so mehr. Beim Interview mit dem Radiosender BBC 5 Live am 22. Oktober antwortete Rory Stewart, Abgeordneter der regierenden konservativen Partei und für Entwicklung zuständiger Staatssekretär im britischen Außenministerium, auf die Frage, was nach dem Fall von Rakka und Mossul mit den britischen IS-Kämpfern geschehen sollte, wie folgt:

Das sind Leute, die sich von jeder Art der Treue gegenüber der britischen Regierung losgesagt haben. Als Mitglieder des Islamischen Staates haben sie sich der Schaffung eines Kalifats absolut verpflichtet. Sie glauben an eine extrem abscheuliche Lehre, die mit dem eigenen Märtyrertod, dem Töten von anderen und dem Einsatz von Gewalt und Brutalität, um einen Staat des siebten oder achten Jahrhunderts zu schaffen, einhergeht. Also befürchte ich, daß wir uns ernsthaft der Tatsache stellen müssen, daß diese Leute für uns eine Gefahr darstellen und daß leider der einzige Weg, mit ihnen umzugehen, in fast jedem Fall sein wird, sie zu töten.

Offenbar deckt sich die von Stewart favorisierte Form, mit der Problematik der ausländischen IS-Kämpfer umzugehen, mit derjenigen der Administration von US-Präsident Donald Trump. Ebenfalls am 22. Oktober wurde in der Onlineversion der konservativen britischen Zeitung Express Brett McGurk, seit den Tagen Barack Obamas im Weißen Haus Sonderbeauftragter Washingtons bei der US-geführten Allianz gegen den Islamischen Staat, mit eindeutigen Worten zitiert. McGurk gab zu erkennen, daß nach der Bombardierung und Erstürmung Rakkas keine Gefangenen gemacht werden sollen: "Unsere Mission besteht darin sicherzustellen, daß jeder ausländischer Kämpfer, der hier ist, der von einem anderen Staat nach Syrien gekommen ist, um sich dem IS anzuschließen, in Syrien stirbt. Wer sich also in Rakka befindet, wird auch in Rakka sterben."

In seinem 1886 erschienen Werk "Jenseits von Gut und Böse" schrieb Friedrich Nietzsche: "Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein." Doch für eine solche Ermahnung ist es bei den westlichen Politikern und Militärs, welche die Beteiligung ihrer eigenen Staaten und Rüstungsindustrien am aktuellen Chaos in weiten Teilen der islamischen Welt nicht einsehen wollen, viel zu spät.

24. Oktober 2017


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