Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

NAHOST/998: Freedom Flotilla bereitet Landung in Gaza vor (SB)


Freedom Flotilla bereitet Landung in Gaza vor

Menschenrechtsaktivisten wollen Israels Marine bezwingen


Als eine der risikoreichsten und deshalb anspruchvollsten Militäroperationen überhaupt gilt die amphibische Invasion. Die Angreifer müssen mit ihrer Ausrüstung und ihrem Proviant über offenes Wasser sicher an Land gelangen. Während sie sich noch auf See befinden und die Landung am gegnerischen Ufer versuchen, können die Verteidiger ihnen schwer zusetzen. Die erfolgreiche, von Südengland aus unter größter Geheimhaltung unternommene, trotz des erbitterten Widerstands der deutschen Wehrmacht durchgesetzte Normandie-Invasion im Juni 1944, die größte amphibische Operation der Geschichte, begründete zum Beispiel den militärischen Ruf des späteren US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower, seinerseits Oberbefehlsaber der Alliierten Truppen im Westen im Zweiten Weltkrieg, während die grandios gescheiterte Landung 1915 bei Gallipoli, um die Dardanellen zu erobern und damit im Ersten Weltkrieg die Zentralmächte in die Knie zu zwingen, als schwerste Niederlage in der langen Karriere Winston Churchills gilt. Mit einer ähnlichen Operation, jedoch natürlich in deutlich kleinerem Maßstab wie übrigens in friedlicher Absicht, wollen Menschenrechtsaktivisten aus aller Welt in den kommenden Tagen von See her die israelische Abriegelung des Gazastreifens brechen. Ob es ihnen gelingen wird, die Defensivmaßnahmen der israelischen Streitkräfte zu überwinden, steht noch in den Sternen.

Während die Rachel Corrie, ein 12.000 Tonnen schwerer, ehemaliger Guinness-Transporter, die am 14. Mai von der irischen Hafenstadt Dundalk aus gestartet ist, inzwischen die spanische Küste erreicht und die Länge des Mittelmeers vor sich hat, sammeln sich bereits griechische und türkische Teilnehmerschiffe der sogenannten Freedom Flotilla in der Ägäis. Am 23. Mai stach die Mavi Marmara (Blaue Marmara) von Istanbul aus mit rund 500 Freiwilligen und humanitären Gütern im Wert von 20 Millionen Dollar an Bord in See. Das Kreuzfahrtschiff, das die türkische Hilfsorganisation Insani Yardim Yafki (IHH) von einer Istanbuler Reederei gekauft hat, soll am 25. Mai in Antalya weitere Freiwillige an Bord nehmen. Anschließend soll die Mavi Marmara in internationalen Gewässern irgendwo südlich der Insel Zypern mit der Rachel Corrie sowie einem algerischen, zwei britischen, einem griechischen und einem kuwaitischen Schiff zusammenkommen. Gemeinsam will man dann den Versuch starten, Gaza zu erreichen.

Durch größtmögliche Öffentliche Aufmerksamkeit wollen die Aktivisten von IHH, Free Gaza Movement, European Campaign to End the Siege in Gaza (EGESG), Ships to Gaza Greece, Ships to Gaza Sweden und International Committee to Lift the Siege on Gaza die Israelis dazu zwingen, sie nach Gaza durchzulassen. 2008 liefen zwei kleine Boote der Free Gaza Bewegung als erste seit dem Sechstagekrieg 1967 aus dem Ausland kommende Schiffe in Gaza-Stadt, dem Hafen des Gaza-Streifens, ein. Eine Wiederholung der sensationellen Aktion hat die israelische Marine bisher verhindern können. Die Dignity wurde mehrmals gerammt; im letzten Sommer wurde die Spirit of Humanity in internationalen Gewässern gekapert, die Besatzung verschleppt und fast eine Woche lang inhaftiert, bevor man die Aktivisten in ihre Heimatländer abschob.

Diesmal sehen sich die Israelis mit acht Schiffen konfrontiert, die rund 10.000 Tonnen an Hilfsgütern transportieren und von fast eintausend Menschen begleitet werden. Dazu gehören Menschenrechtler aus fast 50 Ländern, aktive Politiker wie Annette Groth, Bundesabgeordnete der Linken, oder der Grüne Senator Mark Dearey aus Irland, und international anerkannte Friedensaktivisten wie Oberst a. D. Anne Wright, die im Frühjahr 2003 aus Protest gegen den Irakkrieg George W. Bushs als ranghohe Mitarbeiterin des US-Außenministeriums zurückgetreten war. Namhafte Kritiker der israelischen Besatzungspolitik wie der preisgekrönte australische Journalist und Dokumentarfilmemacher John Pilger und der Linguist und politische Kommentator Noam Chomsky haben zur Unterstützung der Operation aufgerufen. 36 mitfahrende Journalisten, die 21 Nachrichtenagenturen vertreten, wollen für die Außenwelt über die zu erwartenden Ereignisse berichten.

Die israelische Regierung Benjamin Netanjahus sieht sich nun in einer schwierigen Situation. Zwar bereiten sich die israelischen Streitkräfte unter der Leitung von Verteidigungsminister General a. D. Ehud Barak auf die Konfrontation vor, doch stellt sich die Frage, wie sie der Lage Herr werden wollen. Die Mavi Marmara ist jedenfalls so groß, daß man sie vermutlich nur mit einem Flugzeugträger vom Kurs abdrängen könnte. Die Anzahl der Boote sowie der vielen Mitfahrenden dürfte den Versuch, eine Seeblockade des Gazastreifens aufrechtzuerhalten, zu einer eventuell nicht zu bewältigenden, logistischen Aufgabe machen. Man könnte vielleicht versuchen, die Schiffe mit Kommadotrupps zu übernehmen, doch eine solche Aktion dürfte erst recht wegen all der mitfahrenden Journalisten zu einer PR-Blamage erster Güte werden. Vor diesem Hintergrund überraschen Presseberichte nicht, wonach die israelische Zivilgesellschaft der Freedom Flotilla mit einer eigenen Flotte an Sportbooten begegnen will, deren Besatzungen ihrerseits Transparente schwenken wollen, die auf den Raketenbeschuß aus Gaza und die fortgesetzte Inhaftierung des israelischen Soldaten Gilad Shalit hinweisen.

Der erste Versuch, Gaza anzulaufen, der für den 27. Mai geplant ist, dürfte jedenfalls zu einem maritimen Spektakel werden, das jeden Vergleich mit dem alljährlichen Hafengeburtstag in Hamburg oder dem Einlauf der Tall Ships nach dem Ende einer ozeanüberquerenden Regatta standhalten kann. An der von den Israelis reklamierten Staatengrenze, 20 Seemeilen vor der Küste Gazas, werden die Freedom Flotilla, die israelische Marine und die Segeljachten und Motorboote aus der Marina in Herzliya aufeinanderstoßen. Daß sich in dem allgemeinen Durcheinander überhaupt jemand an die Seeverkehrsregeln wie zum Beispiel Steuerbord vor Backbord oder Segel- vor Motorboot, halten wird, darf bezweifelt werden. Es wird vermutlich zu chaotischen Szenen mit Verletzten - und eventuell Toten - kommen.

Um dem vorzubeugen, soll am 24. Mai der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdogan der Netanjahu-Regierung eine geheime Botschaft zukommen gelassen haben, in der Ankara mit "Vergeltungsmaßnahmen" gedroht haben soll, sollte die Freedom Flotilla beim Einlauf in Gaza-Stadt aufgehalten werden. Dies berichtete am selben Tag exklusiv die Nachrichtenagentur Debkafile, die bekanntlich dem israelischen Sicherheitsapparat nahesteht. Laut Debkafile wird die Freedom Flotilla von Schiffen der türkischen Marine bis vor die Küste des Gazastreifens begleitet; an Bord der Mavi Marmara befinden sich türkische Elitesoldaten, welche im Falle eines Blockadeversuchs der Israelis die prominentesten Aktivisten per Hubschrauber nach Gaza-Stadt hinüberfliegen sollen. Also gerät die Aktion um die Freedom Flotilla allmählich zum Teil des sich verschärfenden Kampfes zwischen Israel und der Türkei um die Hegemonie im Nahen Osten. Dabei sind die Vorzeichen für den Showdown vor Gaza nicht gut. Nachdem am 17. Mai in Teheran Erdogan und der brasilianische Präsident Luiz Inacio Lula de Silva mit Mahmud Ahmadinedschad eine Vereinbarung getroffen hatten, welche einer friedlichen Beilegung des Atomstreits mit dem Iran den Weg ebnen sollte, erklärte sechs Tage später Binyamin Ben-Eliezer, der israelische Minister für Industrie, Handel und Arbeit, das NATO-Land Türkei schließe sich "langsam" einer "Achse" des Terrorismus, bestehend aus dem Iran, dem Irak und Syrien, an.

25. Mai 2010