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NAHOST/1018: Hassan Nasrallah bezichtigt Israel des Hariri-Mordes (SB)


Hassan Nasrallah bezichtigt Israel des Hariri-Mordes

Hisb-Allah-Chef geht gegen UN-Sondertribunal in die mediale Offensive


Kaum ein Attentat hat soviel Aufsehen erregt wie der massive Bombenanschlag, der am 14. Februar 2005 an der Strandpromenade von Beirut dem ehemaligen libanesischen Premierminister Rafik Hariri und 22 weiteren Menschen, darunter nicht nur Leibwächtern, sondern auch einfachen Straßenpassanten, das Leben kostete. Kaum hatte sich auf der Beiruter Nobelmeile Corniche der Staub gelegt, wurde Syrien von den USA bezichtigt, hinter dem Anschlag zu stecken, und sah sich in den darauffolgenden Wochen gezwungen, nach 29 Jahren seine Streitkräfte gänzlich aus dem Libanon abzuziehen. Die These nach der syrischen Verantwortung hat jedoch stark an Glaubwürdigkeit gelitten, als 2009 vier Mitglieder des libanesischen Geheimdienstes, die wegen ihrer angeblichen Verbindungen zu Damaskus und ihrer mutmaßlichen Verwicklung in das Hariri-Attentat vier Jahre lang gefangen gehalten wurden, aus Mangel an Beweisen freigelassen werden mußten.

2007 hatte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen auf Drängen der USA das Sondertribunal für den Libanon (STL) ins Leben gerufen, das die Verantwortlichen für den spektakulären Politmord zur Rechenschaft ziehen sollte. Doch inzwischen gelten die Hinweise, die vor fünf Jahren aus Sicht Washingtons eindeutig für eine Beteiligung Syriens sprachen, nicht mehr als besonders stichhaltig. Hinzu kommt, daß wegen des Atomstreits mit dem Iran Washington Damaskus aus seiner Allianz mit Teheran herauszulösen versucht. Dies hat dazu geführt, daß die USA demselben syrischen Präsidenten Bashar Al Assad alle möglichen Offerten machen, dem sie im Frühjahr 2005 offen vorgeworfen hatten, im Stil eines Mafiabosses persönlich den Befehl zur Ermordung Hariris gegeben zu haben. Das Verhalten der USA gegenüber Assad weist nicht nur auf eine veränderte Interessenslage, sondern läßt auch den Schluß zu, daß sich Washington aus politischer Opportunität die damaligen Vorwürfe einfach aus den Fingern gesogen hatte.

Doch weil die "internationale Gemeinschaft" so ein großes Drama um die Aufklärung des Hariri-Mordes gemacht hat, muß das STL zu irgendwelchen Ergebnissen kommen. Und weil die Syrer aus geostrategischen Gründen als Schurken in dieser peinlichen Posse nicht mehr in Frage kommen, ist der schwarze Peter bei der schiitischen Hisb Allah gelandet, die ohnehin wegen ihres Widerstandes gegen die Hegemonialpolitik der USA und Israels im Nahen Osten Washington und Tel Aviv seit Jahrzehnten ein großes Ärgernis ist.

Mitte Juli hat Hassan Nasrallah, Generalsekretär der Hisb Allah, von Said Hariri, dem libanesischen Premierminister und Sohn des ermordeten Baumagnaten, erfahren, daß das STL demnächst Anklage gegen mehrere Milizionäre der schiitischen Bewegung erheben wird. Die Hisb Allah, die mit mehreren Ministern an einer Regierung der nationalen Einheit in Beirut beteiligt ist, weist den Vorwurf einer Verwicklung in den Hariri-Mord weit von sich und sieht in dieser Behauptung den Versuch der Amerikaner und Israelis, die politischen Kräfte des Libanons zu spalten und gegeneinander auszuspielen. Es steht zu befürchten, daß eine Anklage des STL nicht nur zu einer Zusammenbruch der großen Koalition im Libanon führte, sondern das Land an den Rand eines erneuten Bürgerkriegs brachte. Um dem vorzubeugen, sind am 30. Juli Assad - weil Syrien der Hisb Allah nahesteht - und der saudische König Abdullah bin Abdel-Aziz - wegen des Einflusses Riads auf Libanons Sunniten - eigens nach Beirut gereist, um gemeinsam vor Überreaktionen und unüberlegten Handlungen zu warnen.

Die drohende Anklage gegen mehrere Mitglieder der Hisb-Allah-Miliz hat Nasrallah zu einem ungewönlichen Schritt veranlaßt. Am 9. August hat der Hisb-Allah-Chef, der sich wegen der Gefahr eines Attentats des Mossads gegen seine Person selten in der Öffentlichkeit zeigt, per Videoschaltung mehr als zwei Stunden lang Beweismaterial vorgelegt, das seines Erachtens eindeutig für eine Verwicklung Israels in den Hariri-Mord spricht. Nicht nur wegen der Brisanz des Materials, sondern auch wegen des großen Ansehens, das Nasrallah spätestens seit dem Libanon-Krieg im Sommer 2006 zwischen der Hisb-Allah-Miliz und den israelischen Streitkräften genießt, wurde die Präsentation von den meisten arabischen Nachrichtensendern und vielen regulären staatlichen Fernsehsendern in der Region live und in voller Länge ausgestrahlt.

Auch wenn Nasrallah, wie er selbst freiwillig einräumte, nicht den "endgültigen Beweis" für die Verantwortung Israels für den Mord an Hariri vorlegen konnte, so hat das von ihm präsentierte Material diesen Verdacht jedenfalls erhärtet. Nasrallah enthüllte, daß die Hisb Allah seit 1997 die Übermittlungen israelischer Aufklärungsflugzeuge über dem Libanon abfängt, und spielte mehrere Ausschnitte dieser Aufnahmen aus der Zeit vor dem 14. Februar 2005 vor, die seines Erachtens der Ausspähung von Hariri und dessen Bewegungen zwecks der Auswahl eines geeigneten Attentatorts gedient haben. Dazu gehörten Aufnahmen von Hariris Ferienhaus in Fakra, Kesrouan, der Umgebung des Hauses seines Bruders Shafik in Sidon sowie der Strecke zwischen Hariris Wohnort im Beiruter Stadtteil Qoreitem und dem St. George Hotel am Corniche, einschließlich wiederholter Ausschnitte mehrerer Kreuzungen, einschließlich der, an der die tödliche Bombe explodierte. "An diesen Orten gibt es keine Zentren der Hisb Allah oder Wohnungen ihrer Vertreter", erklärte er.

Nasrallah behauptete, daß die Israelis bereits Mitte der neunziger Jahre damit begonnen hätten, die Legende in die Welt zu setzen, daß die Hisb Allah Hariri töten wollte. Zur Untermauerung dieser These spielte er Aussagen des israelischen Agenten Ahmad Hussein Nasrallah, der in Vernehmung zugegeben hatte, Hariris Sicherheitspersonal vor einem geplanten Anschlag der Hisb-Allah-Miliz gewarnt zu haben, vor. Nach Erhalt dieser Informationen hätten die Syrer, die damals in Sicherheitsfragen im Libanon das Sagen hatten, den Hisb-Allah-Milizionär Salameh festgenommen, woraufhin er, Hisb-Allah-Chef Nasrallah, sich bei General Ghazi Kenaan, seinerseits Leiter der syrischen Geheimdienste in Beirut, für dessen Freilassung - am Ende erfolgreich - einsetzen mußte. Der andere Nasrallah wurde später wegen des Verdachts der Agententätigkeit für Israel festgenommen, in welchem Zusammenhang die Bild- und Tonaufnahmen entstanden waren, jedoch kurz danach wieder freigelassen. Im Jahr 2000 soll er das Chaos des Abzugs der israelischen Streitkräfte aus dem Südlibanon genutzt haben, um ins südliche Nachbarland zu fliehen. Dort würde er weiterhin für die Israelis arbeiten und zwar bei der Anwerbung weiterer libanesischer Handlanger, so Nasrallah.

Nach Ansicht des Hisb-Allah-Generalsekretärs ging es bei dem Anschlag auf Hariri den Israelis erstens darum, die Syrer zum Rückzug aus dem Libanon zu zwingen, und zweitens, Zwietracht unter den ethnischen und religiösen Gruppen des Landes zu säen. Auch wenn die Regierung Benjamin Netanjahus die Behauptungen Nasrallas in einer ersten Reaktion auf seine spektakuläre Vorführung als "lächerlich" abtat, so kommen sie eventuell der Wahrheit näher, als Tel Aviv wahr haben will. Seit der Ermordung Elie Hobeikas 2002 in Beirut, kurz nachdem sich der ehemalige christliche Milizenführer bereit erklärt hatte, vor einem Gericht in Belgien über die Rolle Ariel Scharons beim Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila bei der israelischen Belagerung Beiruts im Jahre 1982 auszusagen, ist es immer wieder in Libanon zu Autobombenanschlägen gekommen, die für viele Menschen dort eindeutig die Handschrift des Mossads tragen. Nach der Aushebung der sogenannten Rafah- und Khatab-Netzwerke, die Autobombenanschläge per Fernzündung durchführten, wollte im Juni 2006 die Regierung in Beirut dem UN-Sicherheitsrat einen entsprechenden Bericht über den israelischen "Terrorismus" vorlegen. Das Ansinnen wurde ein Monat später durch den von Israel initiierten Ausbruch des Libanonkriegs vereitelt.

Seit 2009 haben die libanesischen Geheimdienste - womöglich mit Hilfe der Hisb-Allah-Miliz - mehr als 70 israelische Spione festgenommen, von denen einige an entscheidenden Stellen bei den Telekomunternehmen des Landes saßen. Letzterer Umstand ist deshalb von Bedeutung, weil sich nicht wenige der Indizien, welche die Ermittler des STL zusammengestellt haben sollen, auf die Verbindungsdaten der Mobiltelefone der mutmaßlichen Beteiligten am Hariri-Attentat zurückzuführen sind. Nasrallah hat die Frage aufgeworfen, ob diese Verbindungsdaten von den israelischen Agenten bei den Telekomunternehmen nicht manipuliert worden sein könnten. Unter Hinweis auf die Tatsache, daß das STL die verhafteten mutmaßlichen Spione nicht vernommen hat, warf er diesem Parteilichkeit zugunsten Israels vor, und lieferte gleichzeitig damit das Argument, warum die Hisb Allah ihr Beweismaterial dem Ermittlungsteam um Daniel Bellemare nicht zur Verfügung stellen will. Statt dessen forderte Nasrallah die Einberufung einer rein libanesischen Untersuchungskommission. Auch wenn es hierzu nicht kommen sollte, ist es Nasrallah mit seiner TV-Präsentation gelungen, erhebliche Zweifel an der Theorie der Verwicklung der Hisb-Allah-Miliz in das Hariri-Attentat zu erzeugen. Allein dies dürfte für den Fall, daß das STL, wie erwartet bzw. befürchtet, demnächst Anklage gegen "Schurken-Elemente" der Hisb Allah erhebt, für gesellschaftliche Entspannung sorgen.

11. August 2010