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NAHOST/1032: Rettet Jonathan Pollard die Nahost-Verhandlungen? (SB)


Rettet Jonathan Pollard die Nahost-Verhandlungen?

Drohendes Ende des Siedlungsbaustopps bringt Netanjahu in Zugzwang


Wie der Londoner Guardian und die New York Times am 21. September unter Verweis auf Angaben des israelischen Armeerundfunks berichteten, hat die Regierung Benjamin Netanjahu der Administration von US-Präsident Barack Obama inoffiziell einen ungewöhnlichen Handel vorgeschlagen. Sollte das Weiße Haus den wegen Hochverrats verurteilten, jüdisch-amerikanischen Spionen Jonathan Pollard begnadigen und ihn nach Israel ausreisen lassen, wäre Tel Aviv im Gegenzug zur Verlängerung des Baustopps der jüdischen Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten um drei Monate bereit. Israels zehnmonatiger Stopp der Bautätigkeiten in den jüdischen Siedlungen im Westjordanland läuft bekanntlich am 26. September ab.

Der palästinensische Präsident Mahmud Abbas hat wiederholt und unmißverständlich mit einem sofortigen Abbruch der Friedensverhandlungen mit Israel gedroht, sollte der Bau der Siedlungen im Westjordanland wieder aufgenommen werden. Seinerseits hat sich Netanjahu aus Rücksicht auf den Zusammenhalt seiner konservativen Koalitionsregierung, die unter anderem von der Siedlerbewegung unterstützt wird, zu keiner Verlängerung des Baustopps durchringen können. Doch durch die gleichzeitige Heimholung des von den israelischen Rechten als zionistischen Großhelden gefeierten Pollard könnte Netanjahu der Wählerschaft seiner Likud-Partei und der seiner Kabinettskollegen die Entscheidung zum Baustopp als politischen Sieg und großzügigen Beitrag Israels zum Friedensprozeß verkaufen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob sich das Weiße Haus auf einen solchen Deal überhaupt einlassen kann. Wegen des enormen Widerstands seitens des Geheimdienst- und Militärapparats der USA sahen sich Obamas Vorgänger Bill Clinton und George W. Bush zu einer Freilassung Pollards nicht imstande.

Der Fall des US-Bürgers Jonathan Pollard, ein Mitglied des Geheimdienstes der US-Marine, der 1987 wegen Spionage für Israel zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, lastet seit einem Vierteljahrhundert schwer auf den Beziehungen zwischen Tel Aviv und Washington. Bis zu seiner Verhaftung im November 1985 arbeitete Pollard, ein Absolvent der Universität Standford, am Anti-Terrorism Alert Center (ATAC) der US-Marine in Suitland, Maryland. In den Jahren zuvor soll er seinen israelischen Agentenführern, darunter dem damaligen Mossad-Chef Rafi Eitan und dem israelischen Luftwaffenoberst Aviem Sella, der 1981 den Angriff auf den irakischen Atomreaktor Osirak geleitet hatte, mehr als eine Million Dokumentenseiten brisantesten Geheimdienstmaterials aus den USA zukommen gelassen haben. Aufgrund eines Schuldanerkenntnisses, das ihn vor der Todesstrafe bewahrte, wurde Pollard zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt, die er im Bundesgefängnis Butner im US-Bundesstaat North Carolina absitzt.

Während Pollard vor Gericht argumentierte, er habe Israel nur Informationen zukommen lassen, in die Amerikas treuestem Verbündeten im Nahen Osten ohnehin Einblick zustünde, sieht das das Geheimdienst-Establishment in Washington, in Langley und im Pentagon ganz anders. Zu dem Material, das Pollard den Israelis aushändigte, gehört angeblich die komplette Planung des Pentagons für den Fall eines Atomkrieges gegen die Sowjetunion einschließlich der Satellitenbilder sämtlicher Angriffsziele. Nämliche Pläne sollen die Israelis ihrerseits im Austausch gegen eine Lockerung der Ausreisebestimmungen für sowjetische Juden an den Kreml weitergereicht haben. Für Kenner des Falls wie den Pulitzerpreisträger und Enthüllungsjournalisten Seymour Hersh ist es zudem bis heute unklar, wie Pollard, der nicht gerade auf der allerhöchsten Geheimdienstebene agierte, solche Daten in die Finger bekommen konnte. Deshalb wird seit Jahren gemunkelt, daß pro-israelische Zionisten innerhalb der Regierung Ronald Reagans, wie der damalige Stellvertretende Verteidigungsminister Richard Perle, das illegale Treiben Pollards gedeckt haben.

In den ersten Jahren nach Bekanntwerden des Spionagefalls bestritt Tel Aviv jede Verantwortung und behauptete, Eitan und Sella hätten vom israelischen Büro für Wissenschaftliche Beziehungen (LAKAM) aus eine ungenehmigte Operation durchgeführt. 1995 gab man die ohnehin von niemandem geglaubte Notlüge auf und erkannte Pollard die israelische Staatsbürgerschaft zu. Seitdem macht sich die israelische Staatsführung bei jeder Gelegenheit für eine Begnadigung des verlorenen Sohnes stark. 1998 sind die Friedensverhandlungen mit den Palästinensern auf der Wye Plantation im amerikanischen Maryland beinahe an der Forderung des damaligen israelischen Premierministers Netanjahu nach Freilassung Pollards gescheitert. Damals hat der Chef der CIA, George Tenet, mit seinem Rücktritt für den Fall gedroht, daß Clinton dem Wunsch Netanjahus entspricht. Der Streit darüber muß ziemlich heftig gewesen sein, denn Tenet widmet ihm in seinen 2007 erschienenen Memoiren "At the Center of the Storm" ein ganzes Kapitel.

Ende 2000, Anfang 2001, während der letzten Wochen Clintons als US-Präsident, bemühten sich der damalige israelische Premierminister Ehud Barak - heute Verteidigungsminister - und der Ex-Premierminister und Friedensnobelpreisträger Schimon Peres - heute Staatspräsident - öffentlich um eine Begnadigung Pollards durch das Weiße Haus. Wegen des Widerstands des Sicherheitsapparats und angeblich wegen des Vetos des damaligen FBI-Chefs Louis Freeh entschied sich Clinton, dem Wunsch der Israelis nicht zu entsprechen. Auch im März 2001 soll Ariel Scharon bei seinem Antrittsbesuch als neuer israelischer Premierminister beim neuen US-Präsidenten George W. Bush das Thema Pollard angeschnitten haben - ohne daß dies jedoch zu einer Revidierung der Position Washingtons geführt hätte. Im Januar 2002 hat Netanjahu, damals Likud-Abgeordneter in der israelischen Knesset, Pollard im Gefängnis besucht. 2004 sollen Mitarbeiter der Regierung Scharons, in der Netanjahu inzwischen das Amt des Finanzministers bekleidete, eine Freilassung des in Israel gefangenen, palästinensischen Fatah-Anführers Marwan Barghouti im Austausch gegen Pollard vorgeschlagen haben, ohne daß Washington auf den Vorschlag eingegangen wäre.

In seinen Memoiren schreibt Tenet, bei der Diskussion 1998 in Wye soll sogar Dennis Ross, der als israelfreundlich geltende Nahost-Sonderbeauftragte der Clinton-Regierung, gegen die Freilassung Pollards gewesen sein. Laut Tenet hat Ross den Standpunkt vertreten, daß die USA den Vaterlandsverräter erst an die Israelis übergeben sollten, wenn man dafür im Gegenzug etwas wirklich Bedeutendes bekäme. Heute arbeitet Ross im Nationalen Sicherheitsrat als Sonderberater des Präsidenten in Sachen Nahost/Zentralasien. Er und Obama werden sich nun entscheiden müssen, ob die Freilassung Pollards eine Verlängerung des Bausstopps jüdischer Siedlungen um weitere drei Monate und damit die Abwendung des drohenden Kollapses der Nahost-Friedensverhandlungen wert ist.

21. September 2010