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NAHOST/1061: Streit um Kriegsziele begleitet Libyen-Intervention (SB)


Streit um Kriegsziele begleitet Libyen-Intervention

NATO-Partner denken bereits über den Einsatz von Bodentruppen nach


Die Militärintervention in Libyen, welche die libysche Zivilbevölkerung vor den Truppen Muammar Gaddhafis schützen soll und die nach Angaben der Regierung in Tripolis selbst bereits Dutzende ziviler Opfer gefordert hat, geht nun in den vierten Tag. Von amerikanischen Kriegsschiffen und einem britischen U-Boot im Mittelmeer sind Flugplätze, Radaranlagen, Waffenlager und Kommandozentralen der libyschen Streitkräfte mit Marschflugkörpern vom Typ Tomahawk zerstört worden, während amerikanische, britische und französische Kampfjets nicht nur solche Ziele, sondern auch noch gepanzerte Verbände der Regierungstruppen entlang der Küste des nordafrikanischen Landes mit Bomben und Raketen angegriffen haben.

Wenngleich Kampfjets und Hubschrauber der regulären Armee Libyens seit der Verhängung einer Flugverbotszone durch Resolution 1973 der Vereinten Nationen am 17. März laut den Behörden in Tripolis nicht mehr gegen die Aufständischen eingesetzt wurden, gilt die libysche Luftwaffe und Luftabwehr inzwischen als weitestgehend ausgeschaltet bzw. vernichtet. Die Luftangriffe der drei NATO-Verbündeten, die mit den Anti-Gaddhafi-Kräften am Boden angeblich koordiniert werden, sollen letztere erheblich entlastet haben. Drohte den Rebellen vor wenigen Tagen in ihrer Hochburg Benghazi im Osten Libyens, daß sie überrannt werden, so sollen sie die Belagerung der Stadt durch Gaddhafis Soldaten beendet haben können und sich derzeit anschicken, das von ihnen vor rund einer Woche verlorengegangene Adschdabija zurückzuerobern. Doch mit der erfolgreichen Durchsetzung der Flugverbotszone stehen die Regierungen der an der militärischen Intervention beteiligten Staaten, allen voran die USA, Großbritannien und Frankreich, vor der schwierigen Frage: wie geht es weiter?

Formell sind die Interventionisten vom UN-Sicherheitsrat lediglich dazu mandatiert, die libysche Zivilbevölkerung zu schützen. Doch gleichzeitig sieht die Resolution 1973 zu diesem Zweck im Notfall die Ergreifung "aller erforderlichen Maßnahmen" vor. Deshalb haben Großbritanniens Premierminister David Cameron und Verteidigungsminister Liam Fox, am 20. März, dem zweiten Tag der Luftangriffe, durch die breite Auslegung ihres Handlungsspielraums einen offenen Streit mit der eigenen Generalität vom Zaun gebrochen. Während die britischen Militärs, angeführt von Generalstabschef Sir David Richards, bestritten, daß die Angriffe auf Gaddhafis Hauptquartier in Tripolis gegen dessen Person gerichtet wären, weil die UN-Resolution einen Enthauptungsschlag gegen den libyschen Revolutionsführer nicht zuließe, behaupteten Cameron und Fox, die Liquidierung des nordafrikanischen Buhmanns wäre durchaus zulässig, diene sie doch dem Schutz seines Volkes vor Übergriffen.

Die unterschiedliche Positionierung von Militär und Politik in Großbritannien leitet sich aus deren jeweiliger Perspektive ab. Die konservativ-liberale Cameron-Regierung will vor allem an der Heimatfront punkten und treibt - unterstützt von den Medien - die Dämonisierung Gaddhafis voran, um keine großangelegte Antikriegsbewegung wie seinerseits Tony Blair bei der Teilnahme Großbritanniens am Feldzug der Administration George W. Bushs gegen Saddam Hussein entstehen zu lassen. Schließlich lehnen nach einer am 22. März veröffentlichten ComRes/ITN-Umfrage 43 Prozent der britischen Wähler den Militäreinsatz in Libyen ab, während 33 Prozent dafür und 22 Prozent unentschlossen sind. Durch ihr selbstbewußtes Auftreten und ihre markigen Sprüche setzt sich die Cameron-Regierung zunächst politisch durch. In der Nacht zum 22. März haben bei einer Abstimmung im britischen Unterhaus 553 Abgeordnete für den Kriegskurs votiert und nur 13 dagegen gestimmt.

Großbritanniens Generäle sorgen sich dagegen um die Ressentiments, die in Libyen selbst und in der ganzen arabischen Welt ausgelöst werden könnten, sollte dort die Intervention als Versuch des Westens interpretiert werden, nach Afghanistan 2001 und Irak 2003 einen weiteren "Regimewechsel" in einem islamischen Land mit militärischen Mitteln herbeizuführen. Das Problem ist jedoch, daß das genau Sinn und Zweck der ausländischen Einmischung in Libyen ist. Es deutet vieles darauf hin, daß recht bald nach Beginn der Anti-Gaddhafi-Proteste Ende Februar britische und andere ausländische Spezialstreitkräfte in Libyen abgesetzt wurden, nicht nur um westliche Zivilisten außer Landes zu schaffen, sondern auch, um die Gegner Gaddhafis anzufeuern und ihnen militärisch unter die Arme zu greifen.

Inwieweit die Anwesenheit ausländischer Elitesoldaten aus jenen Ländern, die über die Jahre die Gegner Gaddhafis, darunter auch islamistische "Terroristen", mit Geld und Waffen versorgten, zur Eskalation des Konfliktes zwischen Regierungsanhängern und -gegnern beigetragen hat, läßt sich derzeit nicht genau beantworten. Fest steht jedoch, daß sich die Westmächte USA, Großbritannien und Frankreich zum Eingreifen gezwungen sahen, als Mitte März die Regierungstruppen vor den Toren Benghazis standen und der von Washington, London und Paris gefeierte Aufstand endgültig zu scheitern drohte. Schließlich hatten bis dahin US-Präsident Barack Obama und Cameron erklärt, daß Gaddhafi "weg" müsse, während unter Präsident Sarkozy Frankreich als erstes Land die Rebellen vom Nationalen Übergangsrat offiziell als einzige legitime Vertreter Libyens anerkannt hatte.

Die ersten vier Tage der Luftangriffe haben die Aufständischen zwar vor der Niederlage bewahrt, doch es sieht nicht danach aus, als könnte sich die Rebellenarmee jemals gegen die schwerbewaffneten und offenbar gut ausgebildeten Streitkräfte Gaddhafis durchsetzen. Hatten die USA und Großbritannien vielleicht gedacht, sie könnten ähnlich wie vor zehn Jahren beim Sturz des Islamischen Emirats Afghanistan der Taliban durch die Nordallianz mittels Luftangriffen und Einsatzes von Spezialstreitkräften den Regierungsgegnern in Libyen zur Macht verhelfen, so zerschlagen sich diese Hoffnungen zusehends. Aufgrund der offenkundigen militärischen Schwäche der libyschen Opposition wird eine Bodenoperation ausländischer Soldaten erforderlich, um die Ära Gaddhafi endgültig zu beenden.

Zur Ergreifung einer solchen Maßnahme haben sich die Autoren von UN-Resolution 1973 - Diplomaten aus Großbritannien, Frankreich und dem Libanon - eine Hintertür offengelassen. Der Text spricht sich ausdrücklich gegen den Einsatz von "Besatzungstruppen", nicht aber eine ausländische Streitmacht an sich, aus. Folglich könnten die Interventionisten zur Not behaupten, sollte aus ihrer Sicht eine Bodenoffensive erforderlich werden, die zu entsendenden Kampftruppen würden nur kurzfristig eingesetzt, um nach der Beseitigung des "Regimes" Gaddhafi die Verantwortung für Frieden und Sicherheit einer UN-Friedensmission und/oder einer neuen "demokratisch" legitimierten Regierung wie der Hamid Karsais in Kabul oder Nuri Al-Malikis in Bagdad zu übergeben.

Deshalb wollte am 22. März bei einem Interview mit der BBC Nick Harvey, liberaldemokratischer Politiker der Cameron-Regierung und Staatssekretär im britischen Verteidigungsministerium, den eventuellen Einsatz von alliierten Bodenstreitkräften in Libyen nicht ausschließen. Ähnlich hielt sich am Tag davor Obama alle Möglichkeiten mit der Behauptung offen, der Sturz Gaddhafis bzw. seine Beseitigung sei nicht das militärische, wohl aber das politische Ziel der Operation Odyssey Dawn.

Vor diesem Hintergrund hat die New York Times am 22. März interessante Einzelheiten über den aktuellen Streit um die von den USA erwünschte Übergabe des Oberbefehls für die Anti-Gaddhafi-Operation an die NATO veröffentlicht. Derzeit wird dieses Vorhaben von der Türkei, dem einzigen NATO-Mitgliedsstaat mit einer mehrheitlich muslimischen Bevölkerung, blockiert. Wegen ihrer skeptischen Haltung der Militärintervention gegenüber wurden die Türken auch nicht zum großen Libyen-Gipfel, den Sarkozy am 19. März mit ausgesuchten NATO-Partnern und Vertretern einiger arabischer Staaten veranstaltet hatte, eingeladen. Im Artikel mit dem Titel "U.S.-Led Assault Nears Goal in Libya" wird der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdogan dahingehend zitiert, Ankara sei nicht prinzipiell gegen eine NATO-Beteiligung an der Libyen-Operation und wolle "lediglich Zusicherungen, daß sie kurz sein und nicht in eine Besetzung des Landes münden" werde. Weshalb Erdogan die von ihm erwünschten Zusicherungen nicht erhält, dürfte jedem klar sein.

22. März 2011