Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

NAHOST/1066: Bürokrat Goldstone - Ein verlorener Sohn kehrt heim (SB)


Überbewertete Randfigur in einem virulenten Konflikt


Was immer Richard Goldstone gesagt, nicht gesagt oder später revidiert hat, ändert kein Jota an der Faktenlage des Massakers der israelische Streitkräfte im Gazastreifen zur Jahreswende 2008/2009. So eindeutig ist das Machtgefälle zwischen den Konfliktparteien und so gewaltig der Unterschied in den beiderseitigen Opferzahlen, daß eine Parteinahme für die schwächere Seite ein Gebot der Humanität sein sollte. Dies zu erkennen und daraus Konsequenzen zu ziehen, bedarf keines ehemaligen Richters, Chefanklägers, Kommissionsvorsitzenden oder irgendeines anderen Juristen oder Bürokraten, dessen Kompetenz zwangsläufig von einem Machtgefüge delegiert wird, von dem Unterdrückte nichts zu erhoffen haben. Das schließt keineswegs aus, den Goldstone-Bericht zu würdigen und argumentativ zu verwenden, wie man jedes Werkzeug nutzt, das einem zu Gebote steht, sobald man Position bezieht - mehr aber auch nicht, da man andernfalls der fatalen Verwechslung Raum gibt, die eigene Streitbarkeit hinge von Segen und Legitimation irgendeiner höheren Instanz ab. Daher sollte man der Person Goldstones nicht mehr Bedeutung zumessen, als ihr zukommt, und insbesondere nicht jener Strategie die Führerschaft überlassen, die ihn verteufelt, solange er Rückgrat zeigt, und zum Helden verklärt, sobald er einknickt.

Während der israelischen Offensive "Gegossenes Blei" von Ende Dezember 2008 bis Mitte Januar 2009 waren im Gazastreifen mehr als 1400 Palästinenser getötet und etwa 5000 weitere verletzt worden. Am 3. April 2009 wurde der pensionierte südafrikanische Richter und frühere Chefankläger für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda Richard Goldstone von der UN-Menschenrechtskommission beauftragt, mögliche Menschenrechtsverbrechen während der israelischen Militäroperation im Gazastreifen aufzudecken. Den nach ihm benannten Abschlußbericht legte er im September 2009 vor. Darin werden der israelischen Armee und der Hamas Verstöße gegen das Kriegsvölkerrecht vorgeworfen und diese verurteilt. Die Untersuchungsergebnisse der Goldstone-Kommission sind unter den zahlreichen Berichten, die zum Gazakrieg veröffentlicht wurden, mit fast 600 Seiten die bei weitem umfangreichsten. Sie bestätigen die Darstellungen israelischer und internationaler Menschenrechtsorganisationen wie B`Tselem, Amnesty International, Human Rights Watch und Medico International ebenso wie Zeugenaussagen beteiligter israelischer Soldaten, die im April 2009 von der Zeitung Ha'aretz veröffentlicht wurden.

Der UN-Menschenrechtsrat hatte die Goldstone-Kommission beauftragt, "sämtliche Menschenrechtsverletzungen und Völkerrechtsverstöße zu untersuchen, die im Kontext der Operation 'Gegossenes Blei' begangen wurden, vor, während und nach diesem Zeitraum". Diese Formulierung zielte darauf ab, beide Konfliktparteien unter die Lupe zu nehmen und einen "ausgewogenen" Bericht zu erstellen, was der Kommission im beabsichtigten Sinn gelang. Daß die Kritik an der Hamas im Bericht einen geringeren Raum einnimmt, liegt vor allem daran, daß die ihr pauschal angelasteten militanten Aktionen aus dem Gazastreifen weit weniger Opfer forderten und Zerstörungen anrichteten, als die Massaker und Verwüstungen der israelischen Streitkräfte. Die Arbeit der Goldstone-Kommission und deren Ergebnisse als einseitig und fehlerhaft zu verwerfen, wie dies die Regierungen Israels, der USA und der europäischen Mächte getan haben, entbehrt jeder sachlichen Grundlage und ist unverhohlener Ausdruck eines Machtverhältnisses, das nicht nur militärische und administrative Zugriffsgewalt, sondern auch uneingeschränkte Deutungshoheit für sich reklamiert.

Daß die durchsetzungsfähigsten Argumente aus den Gewehrläufen kommen, ist keine Binsenweisheit, sondern vielmehr ein Nexus, an den man sich nicht oft genug erinnern kann. Was als mediengenerierte öffentliche Meinung installiert wird, korrespondiert als Instrument der Herrschaftssicherung mit dem Gewaltpotential, abweichende Positionen, zumal wenn sie in Widerstand münden, zu diskreditieren, zu delegitimieren und bis hinein in strafrechtliche, polizeiliche und militärische Konsequenzen zu sanktionieren. Daher kann man den Angriff auf den Gazastreifen im Kern auf das Ziel zusammenfassen, die haushohe Überlegenheit israelischer Waffengewalt zu demonstrieren, um den palästinensischen Widerstand abzustrafen und für sinnlos zu erklären.

Mit Hilfe seiner Verbündeten hat es Israel bislang stets geschafft, sich im Nahostkonflikt nicht nur gewaltsam durchzusetzen, sondern auch die flankierenden Interpretationsmuster in internationalen Gremien entweder zu eigenen Gunsten zu entscheiden oder andernfalls schlichtweg zu ignorieren. Wie dabei deutlich zutage tritt, existiert keine internationale Gemeinschaft im von diesem Konzept beanspruchten Sinn, sondern vielmehr ein Komplex führender Nationen, deren militärische und wirtschaftliche Stärke die eigenen Interessen durchsetzt und legitimatorisch verankert. Daß es sich dabei um eine Mehrheitsmeinung handelt, ist mindestens zweifelhaft, da die Mehrheit in aller Regel weder gefragt, noch in ihrer Artikulation berücksichtigt wird. Dies läßt sich mit Blick auf die Vereinten Nationen unmittelbar nachvollziehen, da der Sicherheitsrat das einzig maßgebliche Gremium ist, demgegenüber die Beschlüsse der Vollversammlung in entscheidenden Fragen irrelevant und wirkungslos bleiben. Der Menschenrechtsrat, dessen Resolutionen die Führungsmächte nicht mit Hilfe eines Vetos blockieren und aufgrund seiner Zusammensetzung zumeist auch nicht dominieren können, hat zwangsläufig größeren Spielraum in seinen Beschlüssen, die jedoch für gewöhnlich dadurch wettgemacht werden, daß Israel oder die USA und ihre Verbündeten diesem Gremium grundsätzlich feindselige Absichten unterstellen, weshalb sie es nicht selten boykottiert oder seine Entscheidungen für gegenstandslos erklärt haben.

Die wesentliche Stoßrichtung israelischer Bezichtigung des Goldstone-Berichts wirft diesem vor, er setze legitime Verteidigungsinteressen Israels mit dem "Terror" der Hamas gleich. Damit werden die unmittelbaren Überlebensinteressen von Millionen Palästinensern, die im Gazastreifen systematisch ausgehungert, Krankheiten ausgeliefert oder durch Militärschläge getötet werden, vollständig ausgeblendet und der Fiktion geopfert, ein friedliebendes Israel werde grundlos mit Raketen beschossen und müsse dem Einhalt gebieten.

In einem Gastbeitrag der Washington Post vom 1. April 2011 stellte Goldstone seinen Bericht in Frage. Dieser wäre anders ausgefallen, hätte er damals schon gewußt, was er heute wüßte. Wenngleich er der israelischen Seite daran die Mitschuld gab, weil sie ihm nicht die erforderlichen Informationen gegeben habe, wurde sein Kommentar weithin als komplette Kehrtwende interpretiert. So schließt er sich hinsichtlich des schwersten Vorwurfs im Goldstone-Bericht der Version israelischer Militärs an, es habe sich keineswegs um eine gezielte Tötung von Zivilisten, sondern eine fehlerhafte Interpretation des von einer Drohne gelieferten Bildmaterials gehandelt, als etwa 29 Mitglieder der Familie al-Simouni in ihrem Haus getötet wurden. Er vertraue darauf, daß die Untersuchung ein mögliches Fehlverhalten des fraglichen Offiziers gründlich überprüfen und gegebenenfalls zu Konsequenzen führen werde, so Goldstone. [1]

Indem er vollständig ignoriert, daß es sich beim Angriffskrieg einer hochgerüsteten Armee auf ein dicht besiedeltes und nahezu wehrloses Gebiet wie den Gazastreifen nur um ein gezielt herbeigeführtes Massaker handeln kann, schlägt sich Goldstone endgültig auf die Seite des Stärkeren, die er allenfalls dem Schein nach verlassen hatte. In seinem Beitrag für die Washington Post erteilt er geradezu erleichtert der israelischen Führung Absolution, wenn man von einigen Verfahrensfehlern wie dem lange Zeit fehlenden Informationsfluß absieht, und schießt sich auf die Hamas ein. Wollte man eine Zwischenbilanz ziehen, so hat Goldstone womöglich mehr Schaden zu Lasten der Palästinenser angerichtet, als ihrer Sache zu nützen.

Die israelische Regierung hatte Goldstones Team jegliche Zusammenarbeit verweigert und die erhobenen Vorwürfe als einseitig, verleumderisch und inakzeptabel zurückgewiesen, wobei nicht selten sogar von "gezielten Lügen" die Rede war. Als der UN-Menschenrechtsrat eine weitere Expertengruppe, diesmal unter Federführung der amerikanischen Richterin Mary McGowan Davis einsetzte, verweigerte Israel auch in diesem Fall offiziell jegliche Zusammenarbeit. Da die israelische Regierung jedoch fürchten mußte, sich damit auf Dauer ins Abseits zu manövrieren, und eine Festnahme israelischer Entscheidungsträger im Ausland nicht auszuschließen war, spielte man der McGowan-Gruppe die Ergebnisse interner Ermittlungen des israelischen Militärs zu, die einen Teil der Vorwürfe zu entkräften schienen. Da die palästinensische Seite keine Ermittlungen hinsichtlich eigener Verfehlungen durchführte, konnte man sie mit vereinten Kräften ins Visier nehmen. [2]

Israels Ministerpräsident Netanjahu nahm Goldstones Stellungnahme zum Anlaß, vom UN-Menschenrechtsrat die Annullierung des Berichts von 2009 zu verlangen, was ein Sprecher der Vereinten Nationen entschieden zurückwies. Wie er nachvollziehbar argumentierte, könne die private Äußerung eines Kommissionsmitglieds nicht zur Revision eines zuvor offiziell erstellten Berichts führen. Auch Goldstone selbst hat Aussagen des israelischen Innenministers Eli Jischai zurückgewiesen, laut denen er den UN-Bericht zurücknehmen wolle.

Als ein weiteres Mitglied der für den Bericht zuständigen UN-Kommission teilte auch die pakistanische Anwältin für Menschenrechtsfragen Hina Dschilani mit, sie sei gegen eine Annullierung des Reports. Kein Prozeß und keine akzeptable Prozedur könne den UN-Bericht entkräften, denn wenn das geschähe, würde es als verdächtige Maßnahme angesehen werden. Die UN dürften nicht zulassen, daß Straflosigkeit fortbesteht, und müßten handeln, sofern sie eine glaubhafte internationale Einrichtung bleiben wollten. [3]

Israelischen Presseberichten zufolge wurde Richard Goldstone im jüdischen Bekanntenkreis schon seit längerem fast wie ein Volksverräter behandelt. Jetzt wird er in Israel wie ein reumütiger verlorener Sohn gefeiert und hat sogar die persönliche Einladung des israelischen Innenministers Eli Jischai angenommen, der zugleich Vorsitzender der rechtsgerichteten religiösen Shas-Partei ist. Goldstone bestätigte, daß Jischai ihn angerufen und sich bei ihm für die Revision des Berichts zu Gaza bedankt habe. Darauf habe er dem Innenminister für dessen Anruf gedankt und ihm versichert, daß seine größte Sorge der "Wahrheit, Gerechtigkeit und den Menschenrechten" gelte. Die Einladung Jischais nach Israel habe er angenommen, doch könne er nicht vor Juli kommen. Am Ende des Gespräches habe er seine "Liebe für Israel" zum Ausdruck gebracht. Wie es scheint, haben die Palästinenser nichts Gutes zu erwarten, wenn sich Richter Goldstone um eherne Werte sorgt.

Anmerkungen:

[1] Reconsidering the Goldstone Report on Israel and war crimes (01.04.11)
http://www.washingtonpost.com/opinions/reconsidering-the-goldstone-report-on-israel-and-war-crimes/2011/04/01/AFg111JC_story.html

[2] Goldstone zwischen allen Stühlen (07.04.11)
http://www.faz.net/s/Rub117C535CDF414415BB243B181B8B60AE/Doc~E2234DD3B030948A1AC097F6629BFA6A2~ATpl~Ecommon~Scontent.html

[3] Goldstone will umstrittenen Bericht nicht zurücknehmen lassen (06.04.11)
http://www.israelnetz.com/themen/nachrichten/artikel-nachrichten/datum/2011/04/06/goldstone-will-umstrittenen-bericht-nicht-zuruecknehmen-lassen/

7. April 2011