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NAHOST/1091: Blockadepolitik - Gaza-Flottille im Kampf um die Deutungshoheit (SB)


Israels Propagandakampagne diskreditiert Hilfsflotte


Der Gazastreifen - eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt - gleicht einem Freiluftgefängnis, in dem 1,6 Millionen Menschen auf einem Gebiet von 360 Quadratkilometern zusammengepfercht sind. Wie von offiziellen Beobachtern der Vereinten Nationen, Vertretern des Komitees von Roten Kreuz sowie zahlreichen weiteren internationalen Hilfsorganisationen und NGOs hinlänglich dokumentiert und kritisiert, sind die Lebensverhältnisse in der von Israel abgeriegelten Zone verheerend und haben sich im Laufe der Blockade dramatisch verschlechtert. UN-Angaben zufolge liegt die Arbeitslosenrate bei 45,2 Prozent. Die Anzahl der Menschen, die von weniger als einem US-Dollar am Tag leben müssen, ist durch die Auswirkungen der Blockade auf 300.000 gestiegen. Laut UN-Hilfswerk für Palästinaflüchtlinge sind die Löhne im Zeitraum der Blockade um ein Drittel gesunken. [1]

Diese und viele weitere Fakten über die Drangsalierung der palästinensischen Bevölkerung sind für Interessierte allgemein zugänglich, so daß man nicht so sehr von fehlenden Informationen, als vielmehr von einer Schlacht um die Deutungshoheit sprechen kann, wie diese Kenntnis zu bewerten ist und welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Auf dem Prüfstand steht nicht zuletzt der Anspruch Israels, das für sich reklamiert, als einzige Demokratie im Nahen Osten westliche Werte in einem Umfeld arabischer Despotie und Rückständigkeit hochzuhalten. Die politischen Umwälzungen in Vorderasien und Nordafrika haben einen Prozeß von Veränderungen in Gang gesetzt, der die ideologisch festgeschmiedete Doktrin israelischer Regierungspolitik von unverhoffter Seite zu erschüttern droht.

Der Wahlsieg der Hamas im Jahr 2006 war Ausdruck einer wachsenden Frustration und Desillusionierung der palästinensischen Bevölkerung wie auch ihrer Unzufriedenheit mit der Korruption und Vetternwirtschaft in der durch die Fatah geführten Palästinensischen Autonomiebehörde. Wie auch immer man zur Hamas steht, so handelte es sich jedenfalls um reguläre Wahlen, deren Ergebnis nicht anzuerkennen mit demokratischen Prinzipien unvereinbar ist. Mit der Blockade des Gazastreifens straft der israelische Staat die gesamte palästinensische Bevölkerung ab, weil sie "falsch" gewählt hat, und nimmt sie in Sippenhaft - auch dies eine eklatante Verletzung demokratischer Prinzipien und Menschenrechte, die von den Regierungen Europas und der USA mitgetragen wird.

Da nichts und niemand die seit fünf Jahren währende Blockade beenden konnte, stellt die Freiheitsfottille einen Versuch dar, der eingeschlossenen Bevölkerung im Gazastreifen praktische Hilfe zu leisten und zugleich ein Zeichen gegen die Abriegelung zu setzen. Da Israel unter anderem die Einfuhr von lebenswichtigen Medikamenten und Baumaterial nach Gaza verhindert, startet die Flottille in der Absicht, die Blockade zu durchbrechen und solche dringend benötigten Güter mitzubringen. Es liegt auf der Hand, daß das Ziel dieser Aktion darin besteht, einen Beitrag zur letztendlichen Aufhebung der Abriegelung zu leisten, die andernfalls auf unabsehbare Zeit weiterbestehen und Leid über die Menschen im Gazastreifen bringen würde.

Mit dem Angriff der israelischen Verteidigungskräfte auf die erste Freiheitsflottille im letzten Jahr, bei dem in internationalen Gewässern neun Menschenrechtsaktivisten getötet wurden, setzte das Establishment Israels auf das unabweisliche Argument der Waffengewalt. Die internationale Reaktion deutete jedoch an, wie brüchig die Doktrin der Stärke werden kann, sobald sich in deren propagandistischer Rüstung Risse auftun. Daraus zog die israelische Regierung die Konsequenz, im Vorfeld der zweiten Flottille eine umfassende Kampagne zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung insbesondere im Ausland auf den Weg zu bringen.

Der israelische Außenminister Avigdor Lieberman geht offenbar vom Erfolg dieser Kampagne aus. Botschafter und Diplomaten hätten Hunderte Diskussionen geführt, und schlußendlich sei die Zahl der Schiffe und Passagiere geringer als erwartet, erklärte er im israelischen Rundfunk. Man habe viele Gesprächspartner davon überzeugen können, daß die Hilfe über die Häfen Aschdod in Israel, El Arisch in Ägypten oder über die UNO in den Gazastreifen gelangen könne. Mit diesem Scheinargument, daß es seiner Regierung einzig und allein darum gehe, die gelieferten Güter auf Waffen und waffenfähige Produkte zu überprüfen, bedient sich Lieberman desselben Vorwands, mit dem die Blockade als solche begründet wird. Da nahezu alles der Hamas zugute kommen könnte, wird so gut wie nichts durchgelassen, was dringend an Baumaterial, technischen Geräten und Ersatzteilen benötigt wird.

Zugleich erweckt Lieberman den irreführenden Eindruck, daß Hilfsgüter in ausreichender Menge in den Gazastreifen gelangen, sofern man nur die regulären Wege einhält. Die ägyptischen Behörden haben zwar Ende Mai die Öffnung der Grenze bei Rafah bekanntgegeben, doch erlauben sie nur den Grenzübertritt von Zivilisten, nicht aber die Ein- und Ausfuhr von Gütern. So konnten allenfalls Medikamente und andere kleinere Einkäufe mitgeführt werden und das auch nur, bis die Hamas die Grenze aus Protest gegen die Verzögerungen am Grenzübergang und unangekündigte Schließungen ihrerseits schloß. Davon abgesehen kann erst dann von einem Ende der Blockade die Rede sein, wenn alle Übergänge und die Seehäfen ohne Einschränkungen genutzt werden können.

Wie schnell die israelische Regierung inzwischen den Bogen überspannt, zeigte ihr Versuch, ausländische Journalisten durch Drohungen von der Mitreise in der Flottille abzuhalten. Die Ankündigung eines zehnjährigen Einreiseverbots in derartigen Fällen stieß beim Verband der ausländischen Presse in Jerusalem auf geharnischte Kritik. [2] Journalisten sollte es möglich sein, ihrer Arbeit ohne Drohungen und Einschüchterungen nachzukommen, hieß es dort. "Wir rufen die israelische Regierung auf, ihre Entscheidung umgehend zurückzunehmen."

Wenn die Medienvertreter erst einmal an Bord der Schiffe seien, könne niemand sie stoppen, warnte daraufhin der stellvertretende Regierungschef Mosche Jaalon. "Es ist besser, sich nicht mit ihnen anzulegen." Ministerpräsident Netanjahu ordnete eine Prüfung des Vorgangs an und erklärte, er wolle die Sache überdenken, womit der für opportun erachtete Rückzieher fadenscheinig als nicht autorisierte Entscheidung auf mittlerer Ebene, die der Korrektur bedürfe, kaschiert werden sollte. Offenbar hatte die Einsicht die Oberhand behalten, daß man ausländische Journalisten nicht pauschal und offen bedrohen sollte, solange man sich ihrer als Sprachrohr und Multiplikator zu bedienen gedenkt.

Verhindert werden soll die Ankunft der Flottille im Gazastreifen auf jeden Fall. Dies habe der nationale Sicherheitsrat beschlossen, wobei es so wenig Reibung wie möglich mit den Passagieren geben solle, verlautete aus dem Büro von Regierungschef Benjamin Netanjahu. Zuvor hatte bereits Verteidigungsminister Ehud Barak mitgeteilt, daß die Armee entsprechende Anweisungen erhalten habe: "Wir werden sie zunächst warnen, wir werden erklären, wir werden Reibungen möglichst vermeiden, aber letzten Endes kann die Flottille nicht nach Gaza." Einem Bericht der Zeitung Ha'aretz zufolge gibt es im Verteidigungsministerium bereits Pläne, ein entsprechendes Seegericht zu installieren. [3]

Wie weitreichend die israelische Regierung ihren Einfluß geltend macht, unterstrich die Warnung des Außenministeriums in Athen an alle griechischen Bürger und die Besatzungen griechischer Schiffe, nicht an der Gaza-Flottille teilzunehmen. Zudem versuchten die griechischen Behörden, durch bürokratische Hindernisse das Auslaufen mehrerer Schiffe zu verhindern oder zu verzögern. Überdies wurde wie schon im vergangenen Jahr ein Sabotageakt verübt: Nach Angaben der griechischen Organisatoren schlugen Unbekannte bei einem Schiff Schraube und Antriebswelle ab.

In einem Pressegespräch anläßlich seines Dienstantritts erklärte Ron Prosor, der neue Botschafter Israels bei den UNO, die Gaza-Flottille sei überflüssig und diene ausschließlich dazu, "eine Agenda der Provokation voranzutreiben". Diese Flottille habe weder humanitäre Gründe noch wolle sie den Palästinensern helfen. Es gehe den Organisatoren nicht darum, Nahrung oder Waren nach Gaza zu liefern. "Die internationale Gemeinschaft, allen voran der Generalsekretär der UNO, hat erklärt, dass die Flottille keine gute Idee ist. Verschiedene Regierungschefs haben gewarnt, dass sie überflüssig ist. Ich hoffe sehr, dass es uns mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft gelingt, sie aufzuhalten. Es ist unnötig, die Spannungen in der ohnehin angespannten Region noch zu verstärken. Wir haben ein Recht auf Selbstverteidigung und darauf, Waffenschmuggel zu unterbinden und zu verhindern, dass Raketen nach Gaza gelangen, die dann später auf Sderot und andere Orte in Israel abgeschossen werden. [4]

Der Oberbefehlshaber der israelischen Marine, Vizeadmiral Eliezer Marom, stieß ins selbe Horn. Im Rahmen einer Abschlußzeremonie für die Kampftaucherausbildung auf der Marinebasis in Haifa erklärte er: "Kürzlich wurde eine weitere Hass-Flottille nach Gaza organisiert, deren einzige Absicht es ist, einen Zusammenstoß mit israelischen Soldaten und eine Medien-Provokation zu provozieren und den Staat Israel zu delegitimieren". Zudem trage die Flottille zur Bewaffnung der Hamas bei, einer radikalen von Iran unterstützten Terrorgruppe, die dann Terrorakte gegen Israel verüben würde. "Aus der internationalen Gemeinschaft wurden in letzter Zeit mehrfach Aufrufe an die Organisatoren der geplanten Flottille gestartet, diese abzusagen, mit dem Argument, dass es kein humanitäres Problem gibt und alle Waren Gaza nach vorheriger Absprache über Land erreichen können", so Marom. [5]

Allen Ernstes zu behaupten, es existiere überhaupt kein humanitäres Problem, da alle Waren den Gazastreifen erreichen könnten, leugnet schlichtweg allgemein bekannte Tatsachen. Diese Brachialgewalt ist erforderlich, um daraus abzuleiten, daß die Flottille überflüssig sei, was wiederum deren rein provokative Absicht belegen soll. Zwar haben die Organisatoren der Gaza-Flottille EU-Stellen und internationalen Organisationen mehrfach angeboten, die Ladung der Schiffe zu kontrollieren, doch wird davon natürlich kein Gebrauch gemacht. Da man keine Waffen für die Hamas fände, entfiele der Vorwand, die Flottille müsse zur Verhinderung möglichen Waffenschmuggels aufgehalten werden.

"Wir kämpfen weder gegen das Land Israel, noch gegen dessen Regierung oder gar seine Bevölkerung", betonte der griechische Mitorganisator der Flottille, Vangelis Pissias, auf einer Pressekonferenz in Athen. "Wir kämpfen gegen die menschenrechtsverletzende Politik der israelischen Regierung." [6] Er ist sich durchaus im klaren darüber, daß Waffengewalt der israelischen Marine die Freiheitsflottille an der Durchfahrt nach Gaza hindern wird. Dennoch wollen es sich die Besatzungen der zehn Schiffe nicht nehmen lassen, israelischer Regierungspolitik die Deutungshoheit und damit letztendlich die fortgesetzte Blockade des Gazastreifens streitig zu machen.

Fußnoten:

[1] http://www.sozialismus.info/?sid=4312

[2] http://www.zeit.de/politik/ausland/2011-06/athen-gaza-schiffe

[3] http://www.tagesschau.de/ausland/gazaflotte102.html

[4] http://www.juedische.at/TCgi/_v2/TCgi.cgi?target=home&Param_Kat=3&Param_RB=4&Param_Red=14029

[5] http://www.juedische.at/TCgi/_v2/TCgi.cgi?target=home&Param_Kat=3&Param_RB=5&Param_Red=14016

[6] http://www.jungewelt.de/2011/06-28/051.php

28. Juni 2011