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NAHOST/1102: Streit mit Ägypten - Israels Sicherheitsarchitektur zeigt Risse (SB)


Pakt der Kollaboration in der Bevölkerung nicht verwurzelt


Israels Sicherheitsarchitektur gründet im Gleichschritt mit den Vereinigten Staaten und getragen von deren finanzieller, militärischer und politischer Unterstützung auf einer Kontrolle der gesamten Region. Staaten wie der Irak oder der Iran, deren Potential und Position eine Bedrohung der israelischen Vorherrschaft darstellen konnten, wurden zu Feindbildern aufgebaut und präventiv mit einem Angriffskrieg überzogen oder mit einem solchen bedroht. Alle übrigen Regierungen zurrte man in einem Netz der Kollaboration fest, das Israel stabile Verhältnisse garantierte und ihm bei der Drangsalierung der Palästinenser freie Hand ließ. Der Friedensvertrag mit Ägypten und dessen massive Militärhilfe seitens der USA hielten den Rücken frei, wobei man weder in Jerusalem noch in Washington oder den europäischen Hauptstädten Probleme damit hatte, daß auf diese Weise despotische Regime an der Macht gehalten wurden.

Die Umwälzungen in den arabischen Staaten brachten nicht nur deren innere Machtstrukturen ins Wanken, sondern drohen auch das Maschenwerk der Einbindung in die israelische Dominanz zu zerreißen. Garanten der alten Ordnung waren die Eliten und Führungszirkel der benachbarten Regime, nicht jedoch die Bevölkerungen dieser Länder, die sich an die verlorenen Kriege gegen Israel erinnern und mit den Palästinensern sympathisieren. Wo vordem bloße Lippenbekenntnisse arabischer Einheit das Feld beherrschten, schließen die Menschen in ihrem Streben, die Fesseln zu sprengen und bessere Lebensverhältnisse zu erkämpfen, auch die palästinensischen Anliegen ein.

Nach dem Tod der fünf ägyptischen Grenzpolizisten, die einem Angriff der israelischen Streitkräfte zum Opfer gefallen waren, kam es in Kairo zu heftigem Protest vor der Botschaft Israels. Tausende Demonstranten skandierten Parolen gegen das Nachbarland, verbrannten Flaggen mit dem Davidstern, forderten in Sprechchören den Botschafter auf, das Land zu verlassen, und verlangten eine Aufkündigung des Friedensvertrags. Ein junger Demonstrant namens Ahmed al-Shehat kletterte unter den Jubelrufen der Umstehenden bis in den 18. Stock des Gebäudes, in dem sich die Botschaft befindet, verbrannte die israelische Flagge und hißte die ägyptische. In einem Interview mit dem Fernsehsender al-Dschasira gab er später an, ein Offizier habe ihm zugenickt und ihn gewähren lassen. Auch in anderen Städten kam es sowohl von islamischen Gruppen als auch von weiten Teilen der säkularen Jugendbewegung zu Protestaktionen gegen das Vorgehen Israels. [1]

Die zwiespältige Haltung der ägyptischen Sicherheitskräfte, die zwar die israelische Botschaft mit einem massiven Aufgebot schützten, aber dem Volkszorn ansonsten freien Lauf ließen, war symptomatisch für die Doppelstrategie der Militärmachthaber. Nach dem Sturz Hosni Mubaraks wurde das Regime für besiegt erklärt, während man zugleich die Revolte abzuwürgen versucht. Anders als in der Vergangenheit kann der Machtapparat um seines eigenen Fortbestands willen die direkte Konfrontation mit der aufbegehrenden Bevölkerung nur dosiert einsetzen. Zugleich bot der aufbrechende Konflikt mit Israel eine willkommene Gelegenheit, den Unmut der Protestbewegung auf der Straße gegen ein anderes Ziel zu richten.

Israels Verteidigungsminister Ehud Barak hatte unmittelbar nach den Anschlägen bei Eilat die ägyptischen Militärführer als Mitschuldige bezeichnet, weil sie den Sinai außer Kontrolle geraten ließen. Der Tod der fünf ägyptischen Grenzpolizisten löste dann eine schwere diplomatische Krise aus, in deren Verlauf die Regierung in Kairo den Zwischenfall als Verstoß gegen den Friedensvertrag von 1979 verurteilte und ihren Botschafter aus Israel zurückrief. Die israelische Führung war sich der Brisanz dieser Kontroverse offenbar bewußt, da Barak umgehend und noch dazu am Sabbat eine Entschuldigung abgab. Daraufhin begrüßte die Regierung in Kairo zwar den Vorschlag, den Zwischenfall gemeinsam zu untersuchen, doch reiche dies angesichts der Schwere des Vorfalls und der Wut vieler Ägypter nicht aus. Ägypten sei weiterhin am Frieden mit Israel interessiert, jedoch müsse auch die israelische Regierung ihren Verpflichtungen zur Wahrung des Friedens nachkommen. [2]

Diese Entwicklung ist bemerkenswert, da sich die israelische Regierung so gut wie nie zu entschuldigen pflegt. Beispielsweise wartet die Türkei schon über ein Jahr auf eine Entschuldigung für den Tod von neun Menschen, die von der israelischen Marine beim Sturm auf ein Hilfsschiff für den blockierten Gazastreifen erschossen wurden. Obgleich dieser Streit die strategisch bedeutsamen israelisch-türkischen Beziehungen enorm strapaziert und Washington bei der Regierung in Jerusalem einen moderateren Umgang anmahnt, rückt die israelische Regierung nicht von ihrer harten Haltung ab. Das rasche Einlenken im Falle Ägyptens zeugt daher von der Sorge, daß man sich einen Bruch in diesem Fall noch viel weniger leisten kann. [3]

Während die Kollaboration des Mubarak-Regimes in der Vergangenheit dafür gesorgt hatte, daß der Sinai unter Kontrolle, die Südgrenze Israels ruhig und der Gazastreifen abgeriegelt blieb, hat die Umwälzung in Ägypten die Lage gravierend verändert. Da die Polizeikräfte ausgedünnt wurden, warnten örtliche Polizeichefs erst kürzlich in einem Schreiben an das Innenministerium in Kairo vor einem "massiven Schaden für die Wirtschaft und die Menschen der Region", sollte der Personalbestand nicht aufgestockt werden. [4] Im Laufe der vergangenen Monate wurden fünf Anschläge auf Pipelines im Sinai verübt, die Israel und Jordanien mit ägyptischem Erdgas versorgen. Der Warenverkehr in den Gazastreifen hat erheblich zugenommen, was der israelischen Regierung nicht minder ein Dorn im Auge ist. Seit am 29. Juli eine Gruppe Unbekannter eine Polizeistation in der Grenzstadt Arish angegriffen hat, versucht das Militär, mit starker Präsenz und hartem Vorgehen die Sicherheitslage zu verbessern. Israel gab dem Ersuchen auf ägyptischer Seite statt, tausend Soldaten in Grenznähe einzusetzen. Nun wurden weitere Truppen in den Norden der Sinai-Halbinsel verlegt, darunter 250 Panzer und vier Flugzeuge.

Die im September 1978 in Camp David unterzeichneten Verträge bereiteten den Boden für die Unterzeichnung des Friedensvertrages zwischen Israel und Ägypten im März 1979. Darin verpflichtete sich Israel unter anderem dazu, die während des Sechs-Tage-Kriegs 1967 eroberte Sinai-Halbinsel zu räumen. Ägypten erklärte sich bereit, höchstens eine Infanteriedivision auf der Halbinsel zu stationieren und innerhalb einer Sicherheitszone von 20 bis 40 Kilometer Breite entlang der Grenze nur leicht bewaffnete Polizisten einzusetzen. Auf israelischer Seite gilt eine Pufferzone von drei Kilometern, in der vier Infanteriebataillone stationiert werden dürfen. Zudem dürfen auf beiden Seiten bis zu 4.000 Grenzschützer zum Einsatz kommen.

Längst werden in israelischen Medien Forderungen laut, die Camp-David-Verträge neu zu verhandeln. Da das ägyptische Militär die Kontrolle über den Sinai verloren habe, müsse Kairo der Armee Israels gestatten, in dieser Region aktiv zu werden. Daß es sich dabei um ein heißes Eisen in den angespannten Beziehungen der Nachbarländer handelt, liegt auf der Hand. In der ägyptischen Bevölkerung würde ein Einmarsch israelischer Truppen einen Sturm der Entrüstung mit unabsehbaren Folgen anfachen. Der Friedensvertrag hat die Kriege Israels im Libanon, die beiden Intifadas der Palästinenser und selbst das Massaker im Gazastreifen überdauert. So sehr die Übergangsregierung heute von der aktuellen Ablenkung des Volkszorns profitiert und Stärke im Umgang mit Israel lediglich demonstrativ vorhält, läuft sich doch Gefahr, von der Bevölkerung beim Wort genommen und zum Handeln getragen zu werden. [5]

Die israelische Führung hat nach den Anschlägen bei Eilat umgehend die Volkswiderstandkomitees im Gazastreifen der Urheberschaft bezichtigt und bei einem Luftangriff deren Führung wie auch Zivilisten getötet. Daraufhin feuerten Palästinenser Raketen auf Städte in Südisrael ab, während Israel weiter aus der Luft zuschlug. Die Eskalation konnte nur mühsam zugunsten einer brüchigen Feuerpause eingedämmt werden. [6] Angesichts der sozialen Protestbewegung im eigenen Land und der für September angekündigten einseitigen Ausrufung des Palästinenserstaats bietet sich der israelischen Regierung zwar die Gelegenheit, der Sicherheitspolitik alle anderen Anliegen unterzuordnen und diese zum Schweigen zu bringen. Der Konflikt mit Ägypten unterstreicht jedoch, wie rasch unter den veränderten Bedingungen Sand ins Getriebe jahrzehntelang praktizierter Machtpolitik und Kumpanei geraten und die eingeschliffenen Prozesse sprengen kann. Gelänge es den Regierungen in Jerusalem und Kairo, ihren Streit zur vordergründigen Ablenkung der Bevölkerung auf kleiner Flamme köcheln zu lassen, partizipierten sie gleichermaßen in ihrem gemeinsamen Anliegen, die alten Beziehungen in neuem Gewand zu restaurieren. Zugleich müssen sie jedoch fürchten, den Bogen zu überspannen und die Bindekraft des Friedensvertrags aufs Spiel zu setzen, der mehr als alles andere ein Garant der beiderseitigen Herrschaftssicherung war.

Fußnoten:

[1] http://www.taz.de/Proteste-in-gypten/!76622/

[2] http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,781452,00.html

[3] http://www.sueddeutsche.de/politik/frostige-aegyptisch-israelische-beziehungen-ueber-das-ziel-hinausgeschossen-1.1133352

[4] http://www.neues-deutschland.de/artikel/204948.wer-kontrolliert-die-halbinsel-sinai.html

[5] http://dailycaller.com/2011/08/21/nations-race-to-defuse-crisis-between-egypt-and-israel/

[6] http://www.wsws.org/articles/2011/aug2011/isra-a22.shtml

23. August 2011