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NAHOST/1140: Israel spielt Irans Raketenkonter herunter (SB)


Israel spielt Irans Raketenkonter herunter

Netanjahu erhält vom Militär grünes Licht für Angriff auf den Iran



Seit Monaten droht Israels Premierminister Benjamin Netanjahu mit einem Überraschungsangriff der eigenen Luftwaffe und Marine, deren U-Boote mit Marschflugkörpern und ballistischen Raketen ausgerüstet sind, auf die Atomanlagen des Irans. Er begründet die Drohung mit der Unterstellung, die Iraner bauten unter dem Vorwand ihres zivilen Kernenergieprogramms heimlich an der Atombombe. Eine solche Waffe in den Händen der Mullahs in Teheran sei für Israel - das selbst über mehr als 200 Wasserstoffbomben verfügen soll - vollkommen inakzeptabel, so Netanjahu. Dessen Standpunkt hat sich US-Präsident Barack Obama angeschlossen und droht seinerseits der Islamischen Republik mit militärischen Maßnahmen, sollte die Regierung in Teheran bei den für den 13. und 14. April in der Türkei geplanten und eventuell letzten Verhandlungen im sogenannten Atomstreit nicht einlenken.

Ob die Iraner nicht doch irgendwo in einem unterirdischen Bunker an der Atombombe tüfteln, weiß niemand - außer den Beteiligten, sofern es sie überhaupt gibt. Bisher streitet Teheran den Vorwurf Tel Avivs und Washingtons als Teil einer Verleumdungskampagne ab, zumal die Inspekteure der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) bei ihren ausgiebigen Kontrollbesuchen in den iranischen Atomanlagen keinerlei Anzeichen für eine Abzweigung spaltbaren Materials zu militärischen Zwecken feststellen konnten. Genauso wenig weiß man, ob die Drohungen Netanjahus mit einem Überraschungsangriff, der mit der Bombardierung des irakischen Kernkraftwerkes Osirak im Jahre 1981 vergleichbar wäre, nicht Teil eines gigantischen Bluffs sind, mittels dessen der Likud-Chef und seine rechtskonservative Regierung erfolgreich vom umstrittenen Ausbau jüdischer Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten ablenken und gleichzeitig den Verbündeten USA in eine immer konfrontativere Haltung gegenüber dem Iran zwingen. Schließlich gehen die meisten Militärexperten davon aus, daß ein israelischer Alleingang nicht allzuviel bringen würde - es sei denn, sie würden Atomwaffen einsetzen. Deshalb wird allgemein eine amerikanisch-israelische Operation erwartet, was schon deshalb naheliegt, da die Iraner ihre Vergeltungmaßnahmen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht nur gegen Israel, sondern auch gegen amerikanische Militärziele rund um den Persischen Golf richten würden.

Vor diesem Hintergrund sind die Bemühungen Israels, die Konsequenzen eines Militärschlages gegen den Iran herunterzuspielen, sehr beunruhigend. Ungeachtet der Tatsache, daß der deutsche Verteidigungsminister Thomas de Mazière letzte Woche nach einem Treffen in Berlin mit seinem israelischen Amtskollegen General a. D. Ehud Barak Tel Aviv öffentlich vor Schönfärberei gewarnt hatte, berichtete die Tageszeitung Ha'aretz am 2. April, Israels Militär hätte dem Kabinett Netanjahu am Tag zuvor eine Studie vorgelegt, derzufolge der Angriff gegen den Iran lediglich 300 israelischen Zivilisten das Leben kosten würde.

Laut Ha'aretz wird in der Studie für den Fall der Fälle drei Wochen lang mit Tausenden von Raketenangriffen auf Israel seitens der Revolutionsgarden des Irans, der Armee Syriens, der libanesisch-schiitischen Hisb-Allah-Miliz und der palästinensischen Hamas-Bewegung im Gazastreifen gerechnet. Man geht dabei von "schweren Schäden für Gebäude und Infrastruktur", aber lediglich von 300 Toten "sowie Hunderten von Verletzten" aus. Zuvor hatte Barak die Zahl der zu erwartenden Todesopfern auf 500 geschätzt. Auch wenn die Zahl der Opfer in der jüngsten Studie vierzig Prozent darunter liegt, sind beide das Ergebnis von Wunschdenken. Mitte März griff die israelische Luftwaffe über mehrere Tage Ziele im Gazastreifen an, während von dort Raketen auf Israel abgefeuert wurden. Anschließend erklärte das israelische Militär, das eigene Raketenabwehrsystem hätte 90 Prozent der Raketen aus Gaza abgefangen. Dabei wurde der Eindruck vermittelt, im Falle eines Krieges mit dem Iran wäre man genauso erfolgreich.

Es gibt starke Gründe, die Zuversicht der israelischen Führung anzuzweifeln. Die Raketen der Hamas und anderer Gruppen im Gazastreifen sind recht primitiv und fliegen vergleichsweise niedrig und langsam. Folglich können sie vom israelischen Raketenabwehrsystem Iron Dome, das nicht einzelne Raketen anvisiert und zerstört, sondern größere Mengen Metalschrott in die Flugbahn der Geschosse schleudert und sie so vom Himmel holt, halbwegs erfolgreich bekämpft werden. Dagegen verfügen die Revolutionsgarden des Irans über mehr als 450 große, hyperschnelle ballistische Mittelstreckenraketen, die mit chemischen und biologischen Kampfmitteln bestückt werden können. Das Raketenarsenal Syriens wird fast ebenso stark eingeschätzt. Die Raketen beider Staaten dürften zudem in ihrer Zielführung viel präziser als die Heimwerkerkonstruktionen der militanten Palästinenser in Gaza arbeiten. Von daher dürfte die Meldung über die niedrige Zahl geschätzter Todesopfer in Israel infolge einer militärischen Auseinandersetzung mit dem Iran einfach Teil der aktuellen Bluff-Strategie Netanjahus sein - nur kein besonders glaubwürdiger.

4.‍ ‍April 2012