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NAHOST/1188: NATO-Mächte drohen Syrien mit Mehrfrontenkrieg (SB)


NATO-Mächte drohen Syrien mit Mehrfrontenkrieg

An den Grenzen zu Syrien beziehen die Gegner Assads Stellung



Eineinhalb Jahre nach Beginn der gezielten Destabilisierung Syriens hält sich das Baath-"Regime" um Präsident Bashar Al Assad noch immer an der Macht. Zu dem von den USA, Frankreich, Großbritannien, Deutschland und der Türkei erwünschten Zusammenbruch der staatlichen Ordnung dort ist es nicht gekommen, erstens weil der Sicherheitsapparat bisher zusammengehalten hat, zweitens, weil die Regierung in Damaskus einen Teil der Opposition durch Reformen an sich binden konnte, und drittens weil viele Syrer die Abschaffung des bisher säkularen Gesellschaftssystems in ihrem Land ablehnen, die ihnen droht, sollten die Rebellen, in deren Reihen sich zahlreiche sunnitische Moslemextremisten aus dem In- und Ausland befinden, den Bürgerkrieg gewinnen.

Militärisch ist derzeit eine Pattsituation in Syrien zu verzeichnen. Die Aufständischen der "Freien Syrischen Armee" (FSA) und ihre salafistischen Verbündeten haben zwar einige ländliche Regionen unter ihre Kontrolle gebracht, doch sie können keine Stadt dauerhaft halten und liefern sich daher lediglich in dem einen oder anderen urbanen Gebiet tagelange Schlachten mit den staatlichen Streitkräften. Letztere können ihrerseits jede Position der Rebellen über kurz oder lang erobern, den Aufstand jedoch nicht gänzlich niederschlagen, solange die militanten "Regimegegner" über den Libanon, die Türkei und Jordanien mit Waffen, Munition, Geld und neuen Kämpfern versorgt werden. Während sich Rußland um eine diplomatische Lösung des Konfliktes bemüht, aus der alle Seiten erhobenen Hauptes hervorgehen könnten, setzen die NATO-Mächte nach, um den Druck auf Damaskus zu erhöhen und Assad doch noch zum Rücktritt zu zwingen.

Die Granateneinschläge, die am 3. Oktober auf der türkischen Seite der Grenze fünf Zivilisten das Leben kosteten und die förmlich nach einer "Falsche-Flagge-Operation" der Rebellen rochen, haben die Spannungen zwischen Ankara und Damaskus drastisch erhöht. Premierminister Recep Tayyip Erdogan hat am selben Abend offen mit einer Militärintervention der Türkei gedroht und sich für diese Eventualität eine Ermächtigung vom Parlament in Ankara geholt. An der gemeinsamen Grenze, wo sich seitdem beide Seiten Schußwechsel liefern, haben die türkischen Streitkräfte inzwischen 250 Panzer und anderes schweres Gerät auffahren lassen.

Infolge der erzwungenen Landung eines syrischen Passagierflugzeugs durch die türkische Luftwaffe am 10. Oktober unter dem Vorwand, die Maschine würde illegalerweise Kriegsmaterial aus Rußland transportieren, haben Türken und Syrer den eigenen Luftraum jeweils für Flugzeuge des Nachbarstaats gesperrt. Der Vorschlag Syriens zur Bildung einer gemeinsamen Kommission zur Deeskalierung der Lage an der Grenze wurde von der Türkei einfach zurückgewiesen. Offenbar sollen solche Grenzzwischenfälle als Legitimation für die eventuelle Einrichtung eine "Schutzzone" für Flüchtlinge im syrischen Nordwesten herhalten, welche die Rebellen auch als Rückzugsraum und Brückenkopf benutzen könnten.

Wie der Zufall so will, machte die New York Times ebenfalls am 10. Oktober die Tatsache bekannt, daß das Pentagon bereits im August "heimlich" eine Taskforce, bestehend aus 150 Spezialisten der US-Streitkräfte, nach Jordanien entsandte. Die Einheit befindet sich auf einem provisorischen Stützpunkt 35 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt und soll die jordanischen Behörden angeblich in Flüchtlingsfragen beraten. Derzeit befinden sich in Sammellagern in Jordanien rund 180.000 Syrer, die vor dem Krieg im eigenen Land geflohen sind. Nach Angaben der New York Times sollen die amerikanischen Armeeangehörigen neben ihren humanitären Aufgaben die jordanischen Streitkräfte auf "die Möglichkeit vorbereiten, daß Syrien die Kontrolle über seine chemischen Waffen verliert" oder daß sich der Krieg dort "zu einem größeren Konflikt ausweitet."

Die Verlegung der ersten amerikanischen Truppen an die jordanisch-syrische Grenze wurde, wie Anfang Oktober gemeldet wurde, von einer Aufstockung der israelischen Streitkräfte auf den formell noch zu Syrien gehörenden Golan-Höhen begleitet. Solche Truppenbewegungen an den verschiedenen Abschnitten der syrischen Staatsgrenze dürften bei der Militärführung in Damaskus zwangsläufig die Furcht vor einem Mehrfrontenkrieg auslösen. Für die syrische Generalität erhöht sich dadurch das Risiko, falsche Entscheidungen über den Einsatzort und die Anzahl der Soldaten im Kampf gegen die Rebellen zu treffen. Auf diese Weise wollen die Gegner Assads seine Armee schwächen, indem man bei ihr Überdehnungserscheinungen provoziert.

Auch wenn es in den nächsten Tagen nicht zu einer direkten Militärintervention der Türkei und ihrer NATO-Verbündeten in Syrien kommen sollte, ist die Tendenz insgesamt negativ und weist auf eine Eskalation hin. Unterstützt wird diese Einschätzung durch Berichte, wonach künftig auch Mitglieder der iranischen Volksmudschaheddin (MEK) an der Seite der Freien Syrischen Armee kämpfen sollen. Die im Iran verbotene, zwielichtige Organisation wurde im September von der "Terrorliste" des US-Außenministeriums genommen - und zwar auf massives Drängen der pro-israelischen Neokonservativen. Im Iran-Irak-Krieg der achtziger Jahre hat die MEK auf der Seite Saddam Husseins gekämpft. In letzter Zeit hat sie hauptsächlich durch die Verbreitung mutmaßlicher Mossad-Propaganda über das iranische "Atomwaffenprogramm" auf sich aufmerksam gemacht. Ihr wird auch eine Rolle bei den jüngsten Sabotageaktionen und tödlichen Anschlägen auf Wissenschaftler im Iran zugeschrieben. Am 14. Oktober meldete der iranische Nachrichtenagentur Fars unter Berufung auf Berichte der pakistanischen Presse, die US-Armee bilde auf ihren Stützpunkten in Afghanistan heimlich 2000 MEK-Kämpfer aus.

In Syrien tummeln sich glaubhaften Korrespondentenberichten zufolge neben einheimischen Rebellen und Regierungstruppen auch Mitglieder westlicher Spezialstreitkräfte sowie Angehörige der schiitisch- libanesischen Hisb-Allah-Miliz und der iranischen Revolutionsgarden. Nach 18 Monaten "Krieg niedriger Intensität" setzen alle Kriegsparteien noch auf Sieg. Daher wird sich der Kampf um die Zukunft Syriens in nächster Zeit verschärfen.

15. Oktober 2012