Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

NAHOST/1194: Heftige Kämpfe um libysche Wüstenstadt Bani Walid (SB)


Heftige Kämpfe um libysche Wüstenstadt Bani Walid

Manche Zivilisten sind für die NATO rettungswürdiger als andere



Als die NATO-Mächte USA, Frankreich und Großbritannien im März 2011 eine Resolution durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen peitschten, die ihnen eine Militärintervention in Libyen mandatierte, begründeten sie dies mit der Lage um die Stadt Benghazi. Die Truppen Muammar Gaddhafis standen damals vor den Toren der ostlibyschen Hafenstadt. Die Rebellenhochburg drohte zu fallen. Die Träume der Gaddhafi-Gegner vom "Regimewechsel" in Tripolis waren kurz vor dem Zerplatzen. Schnell setzte die NATO die Legende in die Welt, in Benghazi stünde ein Massaker an der Zivilbevölkerung bevor, die das Ausland aus rein humanitären Gründen verhindern müsse.

Bis heute bestehen große Zweifel, was die Richtigkeit der westlichen Version der damaligen Ereignisse betrifft. Durch den Luftwaffeneinsatz hatte die NATO es den regulären libyschen Streitkräften jedenfalls unmöglich gemacht, den Aufstand durch die Einnahme Benghazis im Keim zu ersticken. Es folgten monatelange heftige Kämpfe, die am 20. Oktober 2011 zwar zum Sturz und der Ermordung Gaddhafis führten, dafür möglicherweise aber mehr Menschen das Leben kosteten, als wenn die libysche Armee das staatliche Gewaltmonopol gegen die islamistischen Rebellen in Benghazi hätten durchsetzen können. Ein Jahr später zeichnet sich das Libyen der Nach-Gaddhafi-Ära durch zügelloses Bandenwesen und politische Instabilität aus - wofür die Ermordung des amerikanischen Botschafters Christopher Stephens samt drei seiner Mitarbeiter durch al-kaida-nahe Kräfte bei einem Überfall auf das US-Konsulat in Benghazi am 11. September das bisher spektakulärste Beispiel ist.

Bezeichnenderweise findet dieser Tage in Libyen erneut eine blutige Stadtbelagerung statt, ohne daß sich diejenigen Vertreter der "internationalen Gemeinschaft" wie die amerikanische Außenministerin Hillary Clinton und ihre Amtskollegen aus Großbritannien und Deutschland, William Hague und Guido Westerwelle, die vor 18 Monaten die Welt lauthals vor einem zweiten "Srebrenica" in Benghazi warnten, diesmal sonderlich dafür zu interessieren scheinen. Es geht im aktuellen Fall um Bani Walid, eine Wüstenstadt mit nominell 80.000 Einwohnern, die rund 120 Kilometer südöstlich der Hauptstadt Tripolis liegt und als Hochburg von Gaddhafi-Getreuen gilt. Seit Mitte Oktober ist die Stadt von der Außenwelt abgeschnitten. Die Presse darf auch nicht nach Bani Walid hinein, die unter ständigem Raketen- und Artilleriebeschuß liegt. Tausende Menschen, darunter Kinder und Greise, befinden sich auf der Flucht. Aus Angst vor Repressalien durch die neuen libyschen Streitkräfte vermeiden die Flüchtlinge die Hauptverkehrsader in Richtung Norden. Sie versuchen statt dessen über Wüstenpfade eher in Richtung Süden zu entkommen, wodurch sie auch ein erhebliches Risiko für das eigene Überleben eingehen.

Der Konflikt begann im September, als der Milizionär Omran Shaban aus der Stadt Misrata in einem Krankenhaus in der französischen Hauptstadt Paris an den Verletzungen starb, die ihm zuvor im Verlauf einer zweimonatigen Gefangenschaft in Bani Walid zugefügt worden waren. Shaban gehörte im vergangenen Jahr zu jener Gruppe von Kämpfern aus Misrata, die Gaddhafi nach seinem gescheiterten Ausbruch aus der Stadt Sirtre - sein Autokonvoi wurde bekanntlich von NATO-Kampfjets mit Bomben und Raketen angegriffen - bestialisch folterten und lynchten. Nach der Meldung von Shabans Tod sind dessen Kameraden aus Misrata nach Bani Walid aufgebrochen, um ihn zu rächen. Sie schafften es aber nicht bis in die Stadt, sondern lieferten sich mit den Verteidigern von Bani Walid tagelange Scharmützel. Seit Anfang Oktober, nachdem ein Ultimatum der Regierung, entweder die Mörder Shabans auszuhändigen oder die Stadt nach ihnen von der Polizei durchsuchen zu lassen, tatenlos verstrich, unterstützen die neuen libyschen Streitkräfte die Misrata-Milizionäre in ihrem Kampf. Angeblich haben die Militärkommandeure vor Ort eine Liste mit den Namen von 1000 Gaddhafi-Anhängern, viele von ihnen Ex-Mitglieder der berüchtigten 32. Brigade, die sie nach der Einnahme Bani Walids festzunehmen hoffen.

Über die genaue Anzahl der Toten und Verletzten in Bani Walid herrscht Unklarheit. Die New York Times berichtete am 22. Oktober von 22 Toten und Hunderten Verletzten in den Tagen zuvor. Dies dürfte die Untergrenze sein, zumal die Kämpfe noch anhalten. Man kann davon ausgehen, daß die tatsächliche Zahl der Opfer weitaus höher liegt. In einem Artikel, der am 23. Oktober im Libyan Herald erschienen ist, berichtete eine Gruppe Inder, die mehr als 20 Jahre in Bani Walid lebten und gerade aus dem Ort geflohen waren, daß der aktuelle Beschuß der Stadt viel schlimmer sei als im vergangenen Jahr. Einer der Inder erklärte: "Das letzte Mal war es die NATO, deren Bombenangriffe waren gezielter. Ihre Flugzeuge haben nicht auf Zivilisten geschossen. Diesmal schlagen die Raketen überall ein."

24. Oktober 2012