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NAHOST/1206: Krieg um Gaza vor Waffenstillstand oder Eskalation (SB)


Krieg um Gaza vor Waffenstillstand oder Eskalation

Für Meschal und Netanjahu ist die Stunde der Entscheidung gekommen



Eine Woche hält der jüngste Krieg zwischen Gaza und Israel nun schon an. Die Luftangriffe und das Artilleriefeuer der israelischen Streitkräfte haben in der palästinensischen Enklave mehr als 120 Menschen das Leben gekostet und Hunderte verletzt. Bei den meisten Opfern handelt es sich um Zivilisten, darunter 27 Kinder, und nur in der Minderzahl um bewaffnete Milizionäre. Die Raketenangriffe der Hamas, des Islamischen Dschihads und der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PLFP) haben hingegen drei Tote gefordert - Einwohner eines Wohnblocks in der südisraelischen Stadt Kiryat Malachi. Bisher hat das israelische Militär nur einen Verletzten zu vermelden. Dies kann sich jedoch gravierend ändern, sollte demnächst die angedrohte israelische Bodenoffensive beginnen. Um dies zu verhindern, werden unter ägyptischer Vermittlung fieberhaft Verhandlungen geführt.

Die Beratungen in Kairo finden unter Federführung des neuen ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi statt, der telefonisch seinen amerikanischen Amtskollegen Barack Obama auf dem laufenden hält. An den Diskussionen haben sich in den vergangenen Tagen unter anderem die Außenminister der Arabischen Liga, die ihren Sitz in der ägyptischen Hauptstadt hat, und der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdogan beteiligt. Für die Regierung in Gaza verhandelt der scheidende Chef der Hamas-Bewegung Khalid Meschal, der einst als Hardliner galt und inzwischen zu den Gemäßigten gezählt wird. Der Islamische Dschihad wird durch seinen Chef Ramadan Abdullah Schelah vertreten. Auch die israelische Regierung hat einen ranghohen Beamten aus dem Außenministerium an den Nil entsandt, um die Möglichkeiten einer dauerhaften Feuerpause auszuloten.

Nach Angaben der israelischen Zeitung Ha'aretz hat besagter Gesandte am 19. November Premierminister Benjamin Netanjahu, Außenminister Avigdor Lieberman und Verteidigungsminister Ehud Barak über den Stand der Verhandlungen informiert. Angeblich herrscht zwischen den beiden Streitparteien in 90 Prozent der Fragen Einigkeit. Es ist jedoch unklar, ob die Hamas und die Israelis bereit sind, die Hauptforderung der Gegenseite zu erfüllen. Israel verlangt von der Hamas-Führung angeblich eine von den Ägyptern mitzutragende Garantie, daß es in den nächsten 15 Jahren zu keinen Raketenangriffen mehr auf sein Territorium kommt. Im Gegenzug fordert die Hamas, daß die Abriegelung des Gazastreifens aufgehoben wird, damit dort wieder normales Leben einkehrt und die Menschen ungehindert ein- und ausreisen sowie Handel mit dem Ausland treiben können.

Würde man sich in der momentanen Situation auf einen solchen Deal einlassen, könnten sich beide Seiten ihren jeweiligen Bevölkerungen als Sieger präsentieren. Die Palästinenser in Gaza hätten der mächtigen israelischen Armee getrotzt, erstmals Jerusalem und Tel Aviv mit Raketen beschossen und eine Öffnung der Grenzen erzwungen. Die Israelis hätten für ein dauerhaften Ende der Raketenangriffe aus dem Gazastreifen gesorgt, ihr neues Raketenabwehrsystem Iron Dome, das bislang angeblich eine Trefferquote zwischen 80 und 90 Prozent erzielt, unter Kriegsbedingungen erfolgreich getestet - was als Signal gegenüber dem Iran wichtig wäre - und nicht zuletzt Größe gezeigt, indem sie trotz militärischer Überlegenheit auf eine weitere Eskalation verzichteten. Auf letztere scheint niemand scharf zu sein, da eine israelische Bodenoffensive blutig zu werden droht und unkalkulierbare Risiken birgt.

Nach dem letzten Einmarsch der israelischen Streitkräfte in den Gazastreifen im Rahmen der Operation Gegossenes Blei zur Jahreswende 2008/2009 waren 13 Israelis und 1400 Palästinenser tot. Um es ganz ungeschminkt auszudrücken, sind die Chancen Netanjahus, erneut ein solches Verhältnis der beiderseitigen Verluste zu erzielen, sehr gering. In der Zwischenzeit haben die palästinensischen Milizen im Gazastreifen deutlich aufgerüstet und sich vor allem nach dem Sturz Muammar Gaddhafis im vergangenen Jahr mit erbeutetem Kriegsgut aus den Arsenalen der libyschen Streitkräfte eingedeckt. Bei einem Einmarsch der israelischen Streitkräfte wäre somit zu erwarten, daß sie weit stärker als vor vier Jahren mit schweren Waffen, vor allem mit Anti-Panzer-Raketen, unter Beschuß genommen würden. Die Tatsache, daß Netanjahu im Vergleich zu seinem Vorgänger Ehud Olmert nicht 20.000 sondern 75.000 Reservisten mobilisiert hat, deutet darauf, daß ihm das Ausmaß der militärischen Herausforderung bewußt ist.

Doch selbst wenn es den Israelis in einem mehrwöchigen Bodenkrieg gelänge, die palästinensischen Raketenbestände in Gaza zu vernichten, dürfte der Preis sehr hoch - eventuell zu hoch - ausfallen. Nicht umsonst hat US-Präsident Obama bei einem Fernsehinterview am 18. November die Verbündeten in Tel Aviv auf das Risiko für die israelischen Soldaten, getötet oder verletzt zu werden, hingewiesen. Dazu käme für Israel der außenpolitische Schaden. Die Auseinandersetzung mit der Hamas in Gaza destabilisiert die haschemitische Monarchie König Abdullahs in Jordanien und die von der palästinensischen Fatah-Bewegung um Präsident Mahmud Abbas gestellte Autonomiebehörde in Westjordanland. Sowohl in Ramallah als auch im Amman droht eine Machtübernahme durch die Hamas bzw. die Moslembruderschaft. Ähnlich sieht die Lage in Ägypten aus. Bei einer Eskalation des Krieges in Gaza mit weiteren Opfern unter der palästinensischen Zivilbevölkerung würde sich das von der Moslembruderschaft regierte Ägypten vermutlich gezwungen sehen, das Camp-David-Abkommen mit Israel aus dem Jahr 1978 aufzukündigen. Israel wäre nach Jahrzehnten des Friedens mit drei seiner unmittelbaren Nachbarn in der Nahost-Region wieder vollkommen isoliert. Nicht auszumalen ist auch, wie sich weitere wochenlange Kämpfe auf die israelische Tourismusindustrie auswirken würden.

Daher kann man nur hoffen, daß sich die Ankündigung, die Ägyptens Präsident Mursi gegen Mittag des 20. Oktober in der Stadt Zagazig im Nildelta vor Reportern abgab, wonach die Friedensverhandlungen innerhalb der nächsten Stunden "positive Ergebnisse" zeitigen würden, so daß noch am selben Tag die "Aggression" Israels gegen Gaza ihr Ende fände, bewahrheitet. Andernfalls ist Schlimmes zu erwarten. Am 19. November meldete der Fernsehsender CNN die Verlegung dreier US-Kriegsschiffe ins östliche Mittelmeer, um bei einer eventuellen Evakuierung amerikanischer Bürger aus Israel mithelfen zu können. Am selben Tag wartete der private israelische Nachrichtendienst Debkafile mit einem Bericht auf, wonach ein Frachter aus dem Iran mit weiteren 50 Fajar-5-Raketen und 220 Kurzstreckenraketen für die Gaza-Verteidiger auf dem Weg ins Rote Meer unterwegs sei. Einige Beobachter gehen zudem davon aus, daß im Falle einer Bodenoffensive die schiitisch-libanesische Hisb-Allah-Miliz, die über mehrere tausend Raketen verfügt, Israel ebenfalls angreifen würde. Bisher hat sich die Hisb Allah aus dem Gaza-Konflikt herausgehalten. Dies könnte sich aber ändern, wie der Fund zweier versteckter, auf der Rampe zum Abschuß Richtung Israel bereiter Raketen am 19. November nahe der südlichen Grenze des Libanons deutlich macht.

20. November 2012