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NAHOST/1214: Der Irak und Syrien destabilisieren sich gegenseitig (SB)


Der Irak und Syrien destabilisieren sich gegenseitig

Der schiitisch-sunnitische Konflikt birgt noch jede Menge Sprengkraft



Den Irak und Syrien, die beide auf dem Gebiet des früheren Mesopotamiens liegen, verbindet eine sehr lange Geschichte. Deshalb regte der damalige irakische Präsident Ahmed Hassan Al Bakr 1979 an, die beiden arabischen Staaten, deren Grenzen auf das britisch-französische Sykes-Picot-Abkommen im Ersten Weltkrieg zurückgehen und deren Bevölkerungen über die Stammesstrukturen vielfach miteinander verwandt sind, zu vereinen. Schließlich herrschten damals in Bagdad und Damaskus säkulare, panarabische Baath-Regime. In dem neuen Staat wäre Al Bakr Präsident geworden und der damalige Präsident Syriens, Hafis Al Assad, dessen Stellvertreter. Für den damaligen irakischen Vizepräsidenten Saddam Hussein hätte das jedoch eine Zurücksetzung bedeutet, die zu akzeptieren der Machtmensch aus Tikrit nicht bereit war. Als Hussein den alternden Al Bakr im Juli 1979 zum Rücktritt zwang und sich selbst zum irakischen Präsidenten aufschwang, war es mit dem ehrgeizigen Vereinigungsprojekt aus.

Nachdem die Streitkräfte Australiens, Großbritanniens und der USA 2002 in den Irak einmarschiert waren und Saddam Hussein gestürzt hatten, kam es in den darauffolgenden Jahren zu einem heftigen Bürgerkrieg zwischen Sunniten und Schiiten in der Mitte und im Süden des Iraks. Die Schiiten, welche die Bevölkerungsmehrheit im Irak stellen, waren lange Zeit von Husseins Sicherheitsapparat, der von Sunniten dominiert war, drangsaliert worden. In dem Bürgerkrieg, vor dem mehr als eine Million Iraker nach Syrien flohen, haben sich schiitische Milizen wie die Badr-Brigade und die Mahdi-Armee von Muktada Al Sadr durchsetzen können. Der Preis an Menschenleben war für beide Seiten sehr hoch. Einst gemischte Wohnviertel in der Millionenstadt Bagdad und anderswo wurden ethnisch bzw. nach konfessionellen Gesichtspunkten gesäubert.

Seit 2006 hat der Irak in der Person von Nuri Al Malikis einen schiitischen Premierminister. Ihm wird vorgeworfen, die neue Armee und Polizei des Iraks mit Schiiten zu besetzen und eine zu große Nähe zum Iran zu pflegen. Die irakische Politik steckt seit Jahren in einer Krise. Maliki hat Zusicherungen, auf die von säkularen und sunnitischen Kräften dominierte politische Opposition im Parlament zuzugehen und mit ihr sinnvoll zusammenzuarbeiten, nicht eingehalten. Statt dessen hat er gleich am Tag nach dem Abzug der letzten US-Kampftruppen Ende 2011 den irakischen Vizepräsidenten Tarek Al Haschemi, den höchsten sunnitischen Würdenträger des Landes, wegen der Führung eines "Todesschwadrons" anklagen lassen. Während sich Haschemi rechtzeitig in den kurdischen Nordirak absetzen konnte, sind Dutzende seiner Verwandten und Mitarbeiter verhaftet - und angeblich gefoltert worden. Aufgrund deren Aussagen ist Haschemi vom Gericht in Bagdad bereits zweimal wegen der Beauftragung irgendwelcher Attentate auf politische Gegner schuldig gesprochen worden.

Unterdessen bröckelt das Baath-Regime in Syrien, angeführt von Baschar Al Assad, dem Sohn und Nachfolger des bereits erwähnten Hafis Al Assad. Seit März 2011 liefern sich sunnitische Extremisten, die von den USA, Großbritannien, Frankreich, der Türkei, Katar, Jordanien, Libyen und Saudi-Arabien finanziell und waffentechnisch unterstützt werden, schwere Kämpfe mit den syrischen Streitkräften. Die Rebellen haben Teile Syriens, die im Norden an der Türkei und im Osten am Irak grenzen, bereits unter ihre Kontrolle gebracht. Auf der Seite des Staates kämpfen hauptsächlich Säkularisten, Christen, Drusen und Schiiten. Wie vor einigen Jahren im Irak hat sich inzwischen auch der Konflikt in Syrien zu einem ethnisch-konfessionellen Bürgerkrieg entwickelt.

Die Ähnlichkeit der beiden Konflikte hat auch eine personelle Dimension. Für die Regierung Syriens kämpfen inzwischen schiitische Milizionäre aus dem Irak, darunter Mitglieder der berüchtigten Mahdi-Armee sowie angeblich Angehörige der iranischen Revolutionsgarden. Unter den Aufständischen tut sich vor allem die Al-Nusri-Front hervor, die sich hauptsächlich aus Mitgliedern der salafistischen Al Kaida im Zweistromland zusammensetzt, die in ihrer Heimat als besonders brutale und rücksichtslose Gotteskrieger gelten. Immer mehr gewinnt man den Eindruck, daß sich der sunnitisch-schiitische Kampf in beiden Ländern vereint. Vermutlich waren zum Beispiel dieselben sunnitischen Dschihadisten für die Anschläge am 28. November in Damaskus, dem 104 Menschen zum Opfer fielen, und am 29. November in vier irakischen Provinzen, bei denen 54 Menschen, zumeist schiitische Pilger, getötet wurden, verantwortlich. Die schwerste Einzelattacke ereignete sich in der südirakischen Pilgerstadt Hilla. Dort starben 33 Zivilisten. Mehr als 100 wurden verletzt. Seit Tagen sehen sich die friedlichen Teilnehmer der schiitischen Aschura-Feierlichkeiten im Irak blutigen Anschlägen ausgesetzt. Bereits am 27. November kamen bei Bombenanschlägen auf drei verschiedene schiitische Moscheen in Bagdad 42 Menschen ums Leben.

In einem aufschlußreichen Artikel, der am 28. November bei der US-Onlinezeitung Global Post unter der Überschrift "The fight for Iraq plays out in Syria" erschienen ist, [1] haben der Reporter Hugh McCloud und ein anonym gebliebener syrischer Kollege die Verschmelzung der sunnitisch-schiitischen Auseinandersetzung im Irak und in Syrien zu einem Megakonflikt anhand zweier Schicksale verdeutlicht: "Abu Mohammed und Abu Hamsa rauchen beide Marlboro-Zigaretten und sind sich in einem Punkt einig, beim Krieg um Syrien geht es auch um den Krieg um den Irak." Die beiden Iraker waren in den ersten Jahren der Nach-Saddam-Hussein-Ära aus Angst vor der Gewalt nach Syrien geflohen. Später sind sie mit ihren Familien in den Irak zurückgekehrt. Der 46jährige Abu Hamsa, ein ehemaliger Offizier der Armee Saddam Husseins, bildet heute nahe der syrischen Handelsmetropole Aleppo Rebellen aus. Nach eigenen Angaben kämpft der Sunnit in Syrien, um "den Irak von den pro-iranischen schiitischen Milizen zu befreien". Abu Hamsa, ein ehemaliges Mitglied der Mahdi-Armee, ist dagegen mit einer Gruppe früherer Kameraden nach Damaskus gereist, um dort den Schrein von Sayeda Zeinab, der Enkelin des Propheten Mohammed und einer schiitischen Heiligen, vor sunnitischen Rebellen zu schützen. Zeinab war Tochter von Mohammeds Halbbruder und Schwager Imam Ali. Im Streit über die rechtmäßige Nachfolge des Propheten teilte sich die islamische Welt in die Glaubensrichtungen Schia und Sunni.

Im Global-Post-Artikel wird Abu Hamsa mit der Aussage zitiert: "Die Zukunft der schiitischen Führung in der irakischen Politik wird in Syrien entschieden. Wenn die Sunniten gewinnen, werden die irakischen Sunniten in ihrer Heimat wieder die Führung übernehmen und aufgrund der Unterstützung ihrer syrischen Brüder wieder stark sein. Der Iran wird schwächer sein und die [shiitisch-libanesische] Hisb Allah ihre Waffen und Unterstützung verlieren." Angesichts jener Lageeinschätzung, die in der Nahost-Region von vielen geteilt wird, ist ein baldiges Ende des Blutvergießens in Syrien und dem Irak nicht zu erwarten.



Fußnote:

1. http://www.globalpost.com/dispatch/news/regions/middle-east/syria/121127/syria-conflict-iraq-sunni-shiite?goback=%2Egde_723357_member_190591719

30. November 2012