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NAHOST/1421: USA und Rußland in Syrien auf Kollisionskurs (SB)


USA und Rußland in Syrien auf Kollisionskurs

Washington und Riad kurbeln den Waffennachschub für die Rebellen an


Das Krisengespräch in Wien am 23. Oktober zwischen den Außenministern aus Rußland, den USA, Saudi-Arabien und der Türkei - Sergej Lawrow, John Kerry, Adel Al Dschubeir und Feridun Sinirloglu - hat zu keinem nennenswerten Beitrag zur Beendigung des Bürgerkriegs in Syrien und der damit einhergehenden Flüchtlingskatastrophe geführt. Das Gegenteil ist der Fall. Die Amerikaner, Türken und Saudis verlangen, daß ihr Kriegsziel, die Absetzung des syrischen Präsidenten Baschar Al Assad, von vornherein als Ergebnis etwaiger Friedensverhandlungen zwischen "Regime" und Opposition festgeschrieben wird. Den Ausgang der von Moskau vorgeschlagenen und von Assad zugestimmten Neuwahlen in Syrien wollen Washington, Riad und Ankara offenbar damit im eigenen Sinne vorwegnehmen. Der Anregung Rußlands, den Iran an der Suche nach einer diplomatischen Lösung zu beteiligen, hat Kerry in gewohnter selbstherrlicher Manier eine Absage erteilt.

Die Assad-Gegner sind über die Militärintervention Rußlands im Syrienkrieg, die am 30. September begonnen hat, mehr als verärgert. Seit Wochen setzt die russische Luftwaffe vor allem im Westen Syriens - in den Provinzen Latakia, Idlib, Hama und Homs - den Rebellen schwer zu. Dank russischer Luftunterstützung ist die Syrische Arabische Armee (SAA), die am Boden Hilfe von iranischen Militärberatern sowie schiitischen Hisb-Allah-Milizionären aus dem Iran beziehungsweise aus dem Libanon erhält, wieder auf dem Vormarsch. Aktuell versucht die SAA die Stadt Aleppo nahe der Grenze zur Türkei, die sich etwa zur Hälfte in Rebellenhand befindet, vollständig zurückzuerobern. Der Vorstoß läuft den Plänen Washingtons und Ankaras zuwider, stellt doch die Grenzregion nördlich von Aleppo seit vier Jahren das wichtigste Einfallstor für Waffen und ausländische Dschihadisten aus der Türkei nach Syrien dar. Aus diesem Grund haben Kerry und der saudische König Salman am 24. Oktober bei einem Treffen in Riad vereinbart, den Waffennachschub für die "gemäßigten" Rebellen in Syrien anzukurbeln. Auf diese Weise soll die aktuelle Offensive der SAA zum Erliegen gebracht werden.

In einem Artikel, der am 25. Oktober auf der Website der Zeitung Daily Telegraph, der Hauspostille der britischen Generalität, unter der an Deutlichkeit nicht zu vermissenden Überschrift "US and Saudis vow to step up war on Assad in defiance of Russia" erschienen ist, hieß es, Riad und Washington seien "entschlossen, es nicht nur mit dem [syrischen] Regime, sondern auch noch mit Rußlands Präsidenten Wladimir Putin aufzunehmen". In dem Bericht des "Torygraph" war zudem von einer "Erhöhung der Anzahl der Antipanzerraketen", welche die angeblich gemäßigten Aufständischen seit Beginn des russischen Militärengagements Ende September erhalten, die Rede. Demnach ist der Einsatz von TOW-Raketen aus amerikanischer Produktion durch die Rebellen gerade in den letzten Wochen um 800 Prozent gestiegen und soll "die Regimeoffensive im ganzen Land verlangsamt" haben. Diese Angabe deckt sich mit der Aussage von Issa al-Turkmani, dem Kommandeur der im Raum Aleppo aktiven Sultan-Murad-Gruppe, der in einer Meldung der Nachrichtenagentur Reuters vom 21. Oktober dahingehend zitiert wurde, daß die syrischen Rebellen dieser Tage "mehr Nachschub, darunter Mörsergranaten, Raketenwerfer und Antipanzerraketen, als jemals zuvor" erhielten.

Für zusätzliche Verärgerung bei der Administration von US-Präsident Barack Obama sorgte das Sicherheitsabkommen, das Rußland Anfang Oktober mit Syrien, dem Iran und dem Irak geschlossen hat. Dank russischer Luftangriffe auf Stellungen und Fahrzeugkolonnen der "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) in Syrien konnten die irakischen Streitkräfte, die ähnlich der SAA die Hilfe iranischer Militärberater und schiitischer Milizionäre in Anspruch nehmen, wieder stärker gegen die Kalifatsanhänger im eigenen Land vorgehen. Doch keine zwei Tage, nachdem die irakische Regierung in Bagdad Geländegewinne in Baidschi und Ramadi gemeldet sowie einen Vorstoß zur Vertreibung der IS-Anhänger aus Hawidschah angekündigt hatte, führten US-Spezialstreitkräfte zusammen mit kurdischen Peschmergas am 22. Oktober eine Nacht-und-Nebel-Aktion in letzterer Stadt in der Provinz Salaheddin durch. Bei der Operation kam zum ersten Mal im Irak seit dem offiziellen Abzug der US-Streitkräfte Ende 2011 ein amerikanischer Soldat um Leben.

Über das Motiv für die sonderbare Operation herrscht Unklarheit. Angeblich lagen dem Pentagon und der Kurdischen Autonomieregierung in Erbil Erkenntnisse über ein bevorstehendes Massaker in Hawidschah vor. Bei der Aktion scheint es dem US-Militär darum gegangen zu sein, ehemalige Offiziere der Armee Saddam Husseins, die am Aufbau des IS beteiligt gewesen sind, jedoch in Ungnade gefallen waren, zu retten. Ob man damit Einblick in die Machtstrukturen des IS erhalten oder vielleicht eher die Hintergründe über dessen Entstehung vertuschen wollte, wird man vermutlich niemals erfahren. Jedenfalls soll es sich bei den 70 Männern, die noch rechtzeitig vor der Hinrichtung gerettet werden konnten, um gefangene irakische Soldaten und einfache IS-Freiwillige gehandelt haben, die gegen das salafistisch-strenge Reglement des Kalifats verstoßen oder zu desertieren versucht hatten.

In Syrien und im Irak spitzt sich die Konfrontation zwischen Rußland und den USA gleichermaßen zu. Am 21. Oktober wurde bekannt, daß die US-Luftwaffe ihre sechs F-16-Kampfjets, die seit August auf dem Luftwaffenstützpunkt Incirlik im Südosten der Türkei stationiert waren, durch zwölf A-10 Thunderbolts ersetzte. Der A-10 "Donnerkeil", der auch DU-Munition verschießen kann, eignet sich besonders für Angriffe auf Panzer und feindliche Positionen am Boden und gilt seit 50 Jahren als effektivstes Bodenkampfflugzeug der US-Luftwaffe. Die Verlegung eines Dutzend solcher Maschinen nach Incirlik läßt eine baldige Offensive der verschiedenen kurdischen Kampfformationen im Osten Syriens und im Nordwesten des Iraks als wahrscheinlich erscheinen. Auch ein Vorstoß der türkischen Armee über die syrische Grenze hinweg ist nicht auszuschließen.

Währenddessen hat Bagdad Moskau grünes Licht für Angriffe der russischen Luftwaffe auf IS-Stellungen in Irak gegeben. Dies meldete die türkische Nachrichtenagentur Anadolu am 23. Oktober unter Berufung auf Hakem Al Zamli, den Vorsitzenden des Sicherheits- und Verteidigungsausschusses im irakischen Parlament. Laut Zamli verspricht sich die irakische Regierung von den russischen Luftangriffen eine Unterbrechung der Transportwege, über die der IS neue Waffen erhält und Erdöl verkauft. Warum die von den USA angeführte Anti-IS-Koalition dieser Aufgabe in den letzten 14 Monaten nicht gewachsen gewesen war, gehört zu den Mysterien des "globalen Antiterrorkrieges".

26. Oktober 2015


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