Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → REDAKTION


NAHOST/1422: Libyen zwischen Einheitsregierung und Abgrund (SB)


Libyen zwischen Einheitsregierung und Abgrund

Die gefährliche Destabilisierung Libyens setzt sich unvermindert fort


Nach dem Scheitern der monatelangen Bemühungen des spanischen Diplomaten Bernardino León um die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit in Libyen soll der 62jährige deutsche Diplomat Martin Kopler neuer UN-Sondergesandter in dem bürgerkriegserschütterten Land werden. Laut der Nachrichtenagentur Agence France Presse will UN-Generalsekretär Ban Ki-moon die Personalie am 30. Oktober bekanntgegeben. Die Abberufung Leóns deutet auf die mögliche Entsendung einer multinationalen Interventionstruppe hin, worüber bei der Europäischen Union (EU) seit Monaten diskutiert wird. Schließlich befehligt Kopler, der Arabisch spricht und bereits als deutscher Botschafter in Ägypten und im Irak tätig war, seit zwei Jahren jene 20.000 Blauhelm-Soldaten, die im Rahmen der UN-Stabilisierungsmission MONUSCO für einen brüchigen Frieden im zentralafrikanischen Kongo sorgen. Von 2010 bis 2011 war er politischer Vertreter Deutschlands im Krisenland Afghanistan.

Weder der in Tripolis regierende, von Islamisten dominierte General National Congress (GNC), noch das 2014 gewählte Parlament, das sich im vergangenen Jahr aus Sicherheitsgründen in die östliche Metropole Tobruk abgesetzt hat, konnte sich mit Leóns Plänen anfreunden. Diese sahen für Libyen ein Zweikammersystem mit dem Tobruker Parlament als Unterhaus und dem GNC als Senat vor. Neuer Premierminister sollte GNC-Mitglied Fayez Sarraj werden, der an seiner Seite drei Stellvertreter jeweils aus dem Osten, Westen und Süden des Landes, bekommen hätte. Alle Entscheidungen der neuen Regierung hätten von beiden Volkskammern abgesegnet werden müssen, um wirksam zu werden.

Einer der Streitpunkte, die zum Scheitern von Leóns Mission führten, war die Frage, unter wessen Befehl künftig die Tobruk-treue, libysche Armee und der gegenüber Tripolis loyale Milizenverband, der unter dem Namen Libysche Dämmerung firmiert, kommen sollten. Seit 2014 steht Khalifa Hifter, der lange Jahre im Exil in den USA lebte und folglich als CIA-Verbindungsmann gilt, den libyschen Streitkräften als Oberbefehlshaber vor. Seit Monaten liefern sich der frühere Vertrauensmann Muammar Gaddhafis und seine Truppen in Benghazi heftige Kämpfe von dem von ihnen besetzen Flughafen der Stadt gegen militante islamistische Gruppierungen wie die Ansar Al Scharia.

Viele säkulare Libyer sehen in Hifter, dem gute Kontakte zur Militärdiktatur im Nachbarland Ägypten nachgesagt werden, einen Garanten, daß der libysche Staat künftig säkular ausgerichtet und nicht von religiös-fundamentalistischen Kräften dominiert wird. Da die Pläne Leóns jedoch dem GNC in Tripolis, dessen Mitglieder Hifter mißtrauen, ein Vetorecht bezüglich der Besetzung des Postens des Verteidigungsministers bzw. des Oberbefehlshabers der Streitkräfte einräumte, hat das Parlament in Tobruk den Friedensplan als ganzes abgelehnt.

Wie brisant die Frage der militärischen Strukturen in Libyen ist, zeigt ein Vorfall, der sich am 23. Oktober in Benghazi ereignete. Als an diesem Tag rund 2000 Zivilisten auf dem Al-Kisch-Platz im Zentrum der Stadt gegen die geplante Einheitsregierung und damit gegen die drohende Absetzung Hifters demonstrierten, wurden aus einem anderen Stadtteil heraus sieben Raketen auf sie abgefeuert. Bei dem feigen Angriff, hinter dem salafistische Milizionäre vermutet werden, kamen zwölf Menschen um Leben. Weitere 39 Demonstranten wurden schwer verletzt. Vertreter des GNC in Tripolis haben den Anschlag verurteilt und zu einem gemeinsamen Vorgehen gegen die "Terroristen" aufgerufen.

Doch eine Zusammenarbeit erscheint weiter entfernt denn je. Am 27. Oktober wurde in der Nähe von Tripolis ein Transporthubschrauber abgeschossen, in dem mehrere führende Vertreter des GNC saßen. Alle 23 Insassen der Maschine, darunter auch Oberst Hussein Abu Diyya von der Libyschen Dämmerung, wurden anschließend tot aus dem Mittelmeer geborgen. Wenige Stunden nach dem Abschuß übernahm Mohammed Al Hidschasi im Namen der libyschen Armee die Verantwortung für den Vorfall. Am Tag darauf widersprach jedoch ein Sprecher des Parlaments in Tobruk den Angaben von Abu Diyya und bestritt jede Beteiligung der Hifter-Truppe an dem Angriff.

Während sich Tripolis und Tobruk gegenseitig bekämpfen, baut die "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS), die sich in der Stadt Sirte festgesetzt hat, durch Überfälle und Anschläge unter anderem auf die libysche Ölindustrie ihren Einfluß aus. Am 29. Oktober wurde Sirte Ziel eines Luftangriffs, bei dem lediglich Sachschaden entstand. Wessen Flugzeuge an der Operation beteiligt waren, ist bisher nicht bekannt. Weder die Libysche Dämmerung noch Hifters Luftwaffe hat sich dazu bekannt. Fest steht, daß es es mehr als Nadelstichaktionen bedarf, um die IS-Präsenz in Libyen zu beseitigen. Doch ohne eine politische Einigung der wichtigsten gesellschaftlichen Akteure wird es kein Ende des Chaos und des Blutvergießens in dem nordafrikanischen Land geben.

30. Oktober 2015


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang