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NAHOST/1435: Greift die NATO militärisch erneut in Libyen ein? (SB)


Greift die NATO militärisch erneut in Libyen ein?

Libysche Bürgerkriegsparteien um Versöhnung bemüht


Über die Lage in Syrien macht man sich im Ausland zunehmend Sorgen. Dies gilt für Tunesien ganz besonders, denn dort hat die "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) von Libyen aus in diesem Jahr bereits drei schwere Anschläge mit zahlreichen Toten durchgeführt. Am 1. Dezember fand deshalb in Algier ein Ministertreffen zum Thema Libyen als Instabilitätsfaktor statt, an dem Vertreter Ägyptens, Algeriens, Tunesiens, Tschads, Nigers, Sudans, der Afrikanischen Union (AU), der Arabischen Liga (AL), der Europäischen Union (EU), der Vereinten Nationen und Libyens selbst teilnahmen. Am selben Tag ging ein 24seitiger Expertenbericht an den UN-Sicherheitsrat, in dem die acht Autoren vor der Entwicklung Libyens zum wichtigsten Standort des IS nach dem Irak und Syrien dringend warnten.

Am 2. Dezember hat Italiens Außenminister Paolo Gentiloni zu einer weiteren internationalen Libyen-Konferenz elf Tage später in Rom eingeladen, die vor dem Hintergrund einer möglichen Militärintervention der NATO in dem nordafrikanischen Land stattfinden wird. Seit die nordatlantische Allianz 2011 das Ende des "Regimes" Muammar Gaddhafi mit Hilfe islamistischer Oppositioneller herbeigeführt und Libyen ins politische Chaos gestürzt hat, führen die USA regelmäßig bemannte und unbemannte Aufklärungsflüge über Libyen durch. Am 13. November - und damit datumsgleich mit den IS-Anschlägen in Paris - sollen F-15-Kampfjets der USA mittels eines Raketenangriffs in der Stadt Derna den ranghöchsten Kommandeur des Islamischen Staats in Libyen, Abu Nadil, liquidiert haben. Am 4. Dezember gab der Elysée Palast in Paris bekannt, daß französische Militärmaschinen am 20. und 21. November erste Aufklärungsflüge über Libyen, darunter über die IS-Hochburg Sirte, geflogen hätten und daß weitere solche Operationen geplant seien.

In einem Artikel, der am 6. Dezember bei der britischen Sonntagszeitung Observer unter der Überschrift "Warplanes in Libyan skies may signal next major battle in fight to contain Islamic State" erschienen ist, beschrieb Chris Stephens aus Tunis den offenbar fortgeschrittenen Stand der Vorbereitungen eines militärischen Eingreifens des Westens in Libyen wie folgt:

Vertreter des US-Afrikakommandos, AFRICOM, dessen Hauptquartier in Stuttgart liegt, haben die Region besucht. Sollte die politische Entscheidung für eine Militärintervention gefällt werden, sind dafür bereits im ausreichenden Maße westliche Streitkräfte an den libyschen Grenzen stationiert worden. Neben Drohnen und Aufklärungsflugzeugen haben die USA Bomberflugzeuge und Hubschrauber-Verbände der Marineinfanterie in Spanien und Italien stehen. US-Drohnen operieren zudem von zwei Basen in Niger aus. Dort unterstützen sie ein 3.000 Mann starkes Kontingent französischer Fallschirmjäger, die im Rahmen von Operation Barkhane die Südgrenze Libyens wegen von dort kommender Dschihadistenkonvois kontrollieren.

Tornado- und Typhoon-Maschinen der britischen Luftwaffe, die vor kurzem nach Zypern verlegt wurden, befinden sich genauso in Reichweite Libyens wie die Kampfjets an Bord des französischen Flugzeugträgers Charles de Gaulle. Und vor der libyschen Küste patrouillieren ein Dutzend europäischer Kriegsschiffe, die derzeit mit der ineffektiven Mission beauftragt sind, den Flüchtlingsschleppern das Handwerk zu legen.

Als eventuelle Begründung für eine Intervention der NATO in Libyen werden die verstärkten Aktivitäten von IS dort angeführt. Im bereits erwähnten UN-Bericht heißt es, von den rund 3500 libyschen Kämpfern, die in den letzten Jahren für den IS in den syrischen Bürgerkrieg gezogen sind, hätte die "Terrormiliz" in den letzten Monaten 800 nach Hause beordert. Dort sollen sie von der IS-Hochburg Sirte aus am Aufbau der nordafrikanischen Dependance des Kalifats mitwirken. Insgesamt wird die Anzahl der IS-Kämpfer in Libyen - das heißt vor allem in Sirte und Umgebung - auf 2000 bis 3000 geschätzt. In einem Bericht, den am 2. Dezember die in London auf Arabisch erscheinende Zeitung Asharq al-Awsat veröffentlichte, hieß es unter Berufung auf libysche Informanten, der IS würde am Flughafen von Sirte mit einem modernen Flugsimulator Kämpfer für Selbstmordanschläge à la 9/11 ausbilden. Wegen jener Gefahr hat am 4. Dezember die tunesische Regierung über die Hauptstadt Tunis ein Start und Landeverbot für libysche Flugzeuge verhängt.

Wenngleich "Terrorismus" und die Flüchtlingskrise im Mittelmeer wichtige Faktoren in den Überlegungen der Verantwortlichen bei der NATO sind, dürfte deren Hauptaugenmerk auf die Bedrohung gerichtet sein, die der IS für die libysche Ölindustrie darstellt. Vor einigen Tagen haben IS-Kämpfer die Stadt Ajdabiya, die rund 400 Kilometer östlich von Sirte liegt, angegriffen. Gelingt dem IS, Ajdabiya zu besetzen und den Küstenstreifen bis nach Sirte halbwegs unter seine Kontrolle zu bekommen, hätte die "Terrormiliz" einen gewaltigen strategischen Etappensieg errungen. Die größten Ölfelder Libyens liegen allesamt südlich von diesem Küstenabschnitt. Die wichtigsten Ölverladehäfen sind - von Westen nach Osten gesehen - Sirte, Lanuf und Brega. Durch die Einnahme des Infrastrukturdrehkreuzes Ajdabiyah könnte der IS die Ölverladehäfen von den Ölfeldern im Landesinnern abschneiden und die ohnehin lahmende Wirtschaft Libyens völlig zum Erliegen bringen.

Damit es dazu nicht kommt, sind verstärkte Bemühungen um die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit im Gange. Am 6. November meldeten Unterhändler des von "gemäßigten" Islamisten dominierten General National Congress (GNC) in Tripolis und dem in Tobruk ansässigen House of Representatives (HoR) aus Tunis, sie hätten sich auf eine Beendigung des Bürgerkrieges, den sich beide Seiten seit über einem Jahr liefern, verständigt. Demnach wurden zwei gemeinsame Komitees gebildet, die jeweils kurzfristig die Zusammensetzung einer Allparteienregierung bestimmen respektive längerfristig eine neue Verfassung ausarbeiten sollen. Kritiker bemängeln, daß in der Vereinbarung von Tunis das strittige Thema einer künftigen Rolle für Khalifa Hifter ausgespart wurde. Der Ex-General und CIA-Verbindungsmann befehligt im Auftrag Tobruks die regulären libyschen Streitkräfte. Während das HoR bislang an Hifter festhält, lehnt der GNC eine Unterordnung seiner Kämpfer unter den ehemaligen Vertrauten Gaddhafis strikt ab.

Dessen ungeachtet stehen sowohl die libyschen Bürgerkriegsparteien als auch die Regierungen der Nachbarstaaten Libyens einer Militärintervention der NATO skeptisch bis ablehnend gegenüber. Zu Recht befürchten sie, daß der Auftritt westlicher Militärs in Libyen einen nationalistisch-religiösen Reflex auslösen und viele junge Männer, die bisher ihren eigenen Stammesmilizen treu geblieben sind, in die Arme des IS treiben könnte. Die nächsten Wochen werden zeigen, inwieweit die militärische und politische Führung der NATO bereit ist, das Urteil führender Persönlichkeiten in Libyen und den anderen nordafrikanischen Staaten zu berücksichtigen.

8. Dezember 2015


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