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NAHOST/1504: Islamischer Staat verliert Hochburg Sirte in Libyen (SB)


Islamischer Staat verliert Hochburg Sirte in Libyen

Kein Ende des politischen und militärischen Machtkampfs in Sicht


Am 5. Dezember ist die im vergangenen Mai begonnene Militäroperation zur Rückeroberung der Stadt Sirte, welche Anhänger der "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) letztes Jahr übernommen und zum Stammsitz eines Kalifats in Libyen erklärt hatten, offiziell für vollzogen erklärt worden. Im Verlauf der langwierigen Kämpfe sollen mindestens 712 Freiwillige der Miliz Bunyan Marsour aus Misurata, die im Auftrag der Regierung der Nationalen Einheit (Government of National Accord - GNA) in Tripolis Sirte angriffen, ums Leben gekommen und weitere 3210 verletzt worden sein. Auf seiten des IS werden die Verluste - Getötete und Verletzte zusammengerechnet - auf 1800 bis 2000 Mann geschätzt. Nach vor dem endgültigen Fall ihrer Hochburg haben mehrere hundert IS-Kämpfer Sirte verlassen, um sich vermutlich im weitläufigen, schwer kontrollierbaren Süden Libyens neu zu formieren. Daß die Kalifatsanhänger in Libyen noch lange eine gefährliche militärische Kraft darstellen werden, zeigt eine Meldung des Libyan Herald, wonach am Abend des 5. Dezember eine Gruppe aus Sirte fliehender IS-Kämpfer beim Angriff auf einen Kontrollpunkt 60 Kilometer südlich von Misurata an der Hauptstraße Richtung Bani Walid zwei Panzer zerstört und mehrere gegnerische Milizionäre getötet haben.

Während der IS in Libyen zunächst ein Thema für die Drohnenkrieger des Pentagons und der CIA auf ihrem neuen Luftwaffenstützpunkt im benachbarten Tunesien ist, bleibt den Libyern das Problem der konkurrierenden Machtzentren erhalten. Die mit Hilfe der Vereinten Nationen Ende letzten Jahres ins Leben gerufene und deshalb von der "internationalen Gemeinschaft" anerkannte GNA unter der Leitung von Premierminister Fayiz Al Sarradsch hat sich in Tripolis gegen den seit 2011 existierenden und von der Moslembruderschaft dominierten Allgemeinen Volkskongresses (General National Congress - GNC) noch nicht durchsetzen können. Am 2. und 3. Dezember kam es in Tripolis zu den heftigsten Kämpfen seit Monaten, als zwei schwerbewaffnete Milizen im Süden der Hauptstadt aufeinander losgingen. Bei der Auseinandersetzung kamen mindestens acht Menschen ums Leben.

Um sich gegen den GNC behaupten zu können, ist die GNA eine fragwürdige Allianz mit der Special Deterrence Force (SDF) eingegangen. Offenbar ist es Al Farradsch gelungen, die salafistische, rund 900 Mann starke SDF, die einst ihre Befehle vom Innenministerium des GNC bekam, auf seine Seite zu ziehen. Diese Entwicklung dürfte langfristig schwerwiegende Folgen haben. Die SDF wird bezichtigt, im Oktober in Tripolis Nader Al Omrani, den Vorsitzenden des sunnitischen Dachverbands der Islamgelehrten Libyens, der höchsten religiösen Instanz des Landes, entführt und ermordet zu haben. Mitte November hat die libysche Kriminalpolizei (General Investigation Directorate) ein Video veröffentlicht, in dem ein Mann namens Abdel Kareem Al Zintani Einzelheiten der Ermordung Al Omranis bekanntgibt. Al Zintani behauptet anwesend gewesen zu sein, als Al Omrani in ein Erdloch geschoben und anschließend von Abdel Hakim Makdisch, dem Leiter der Verbrechensbekämpfungsbehörde (Anti-Crime Agency) in Tripolis, mit Kugeln aus einem Maschinengewehr durchsiebt wurde. Laut Al Zintani mußte Al Omrani deshalb sterben, weil er öffentlich die radikalen Ansichten von Rabee Al Midkhali, des aus Saudi-Arabien stammenden, geistlichen Anführers der SDF, kritisiert hatte. Wie Al Farradsch mit einer solchen Kampftruppe Recht und Ordnung durchsetzen will, bleibt einem unabhängigen Beobachter schleierhaft.

Der Pakt mit der SDF macht auf jedem Fall die anvisierte Annäherung zwischen GNA und dem Abgeordnetenhaus (House of Representatives - HoR), dessen gewählte Vertreter sich 2014 nach Kämpfen mit Vertretern des GNA ins östliche Tobruk abgesetzt hatten, noch schwieriger. Das HoR steht unter dem Schutz der Libyschen Nationalarmee (LNA), die von "Feldmarschall" Khalifah Hifter, der ursprünglich ein Kampfgefährte Muammar Gaddhafis war und später CIA-Kontaktmann wurde, befehligt wird. Seit 2014 führen Hifters Männer mit Unterstützung Ägyptens im Osten Libyens eine Offensive gegen islamistische Milizen im allgemeinen, die Ansar Al Scharia in Benghazi im besonderen, durch. Hifter, der im September die wichtigsten libyschen Ölraffinerien und -verladehäfen unter die Kontrolle der LNA gebracht hat, wurde Ende November in Moskau vom russischen Außenminister Sergej Lawrow zu politischen Gesprächen empfangen. Hifter und das HoR hoffen, daß sie ab Januar 2017 von der neuen US-Regierung unter der Leitung des Republikaners Donald Trump gegenüber der GNA Al Farradschs aufgewertet werden.

Wie instabil die Verhältnisse in Libyen derzeit sind, zeigt ein entsetzlicher Vorfall, der sich Mitte November in der Wüstenstadt Sabha ereignete. Dort hat in einer Einkaufstraße eine Affe, die einem Laden- bzw. Standbesitzer vom Stamm Gaddadfa gehörte, einem Schulmädchen vom Stamm Awlad Suleiman das Kopftuch vom Kopf gerissen. Zur Vergeltung haben Männer des Awlad-Suleiman-Stamms den Affen und drei Mitglieder des Gaddadfa-Stamms getötet. Daraufhin folgten in Sabha vier Tage lang schwere Kämpfe, bei denen Panzer und Mörsergranaten zum Einsatz kamen. Am Ende waren mindestens 16 Menschen tot und mehr als 50 verletzt. Sabha, das fast 800 Kilometer südlich von Tripolis in der Mitte Libyens liegt, gilt aktuell als Drehkreuz des Menschen- und Waffenschmuggels.

6. Dezember 2016


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