Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → REDAKTION


NAHOST/1532: Die Rückeroberung läßt Mossul völlig zerstört zurück (SB)


Die Rückeroberung läßt Mossul völlig zerstört zurück

Wie geht es nach dem militärischen Sieg Bagdads im Irak weiter?


Wie befürchtet, hat die Schlacht zur Rückeroberung von Mossul ungeheure Schäden an der zweitgrößten Stadt des Iraks und Hauptstadt der Provinz Ninawa hinterlassen. Noch im Oktober hatte die Offensive der irakischen Streitkräfte, unterstützt von Luftwaffe und Militärberatern der USA sowie schiitischen Freiwilligenverbänden, gegen die sunnitische "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) begonnen. Nach der Einnahme des am östlichen Ufer des Tigris liegenden, weitläufigeren Stadtteils begann im Februar der Ansturm auf Westmossul einschließlich der historischen Altstadt. Am 29. Juni hat Iraks Premierminister Haider Al Abadi den Sieg der staatlichen Streitkräfte in Mossul verkündet - doch zu welchem Preis, das ist die Frage.

Anlaß der Siegeserklärung Abadis war die Einnahme der Großen Moschee des Al Nuri, von wo aus genau drei Jahre zuvor, nämlich am 29. Juni 2014, nach der überraschenden Blitzeroberung der zweitgrößten Stadt des Iraks durch den IS dessen Oberbefehlshaber Abu Bakr Al Baghdadi das Kalifat ausgerufen hatte. Eigentlich hat die irakische Armee nicht die Al-Nuri-Moschee, sondern lediglich deren Gelände und einen großen Schuttberg erobert. Beim Rückzug hatten eine Woche zuvor IS-Kämpfer das 800 Jahre alte Wahrzeichen Mossuls in die Luft gejagt. Der ganze Gebäudekomplex ist in sich zusammengestürzt. Auch das 45 Meter hohe, im 14. Jahrhundert gebaute Minarett, das leicht schief stand und deshalb den Namen Al Habda, "Das Bucklige", trug, liegt am Boden.

Nach Auswertung von Satellitenbildern gehen Experten der Vereinten Nationen von 500 komplett zerstörten und weitere 5000 schwer beschädigten Gebäuden im Mossul aus. Allein ein Drittel der Schäden soll seit Juni infolge der besonders intensiven Kämpfe um die Altstadt entstanden sein, die eigentlich immer noch nicht ganz beendet sind. Rund 300 IS-Kämpfer sollen sich im Stadtkern verschanzt haben. Dort stecken mindestens 20.000 Zivilisten ebenfalls fest, die praktisch nichts mehr zu essen oder zu trinken haben. Rund 900.000 Menschen sind vor den Kämpfen geflohen. Die meisten von ihnen haben Unterschlupf in provisorischen, dürftig ausgestatteten Zeltlagern in der Walachei gefunden. Tausende von Zivilisten sollen infolge der Kämpfe in Mossul ums Leben gekommen sein.

Unabhängig davon, wie schnell oder langsam sich der Abschluß der Operation zur Rückeroberung von Mossul gestaltet, dürfte die Problematik IS bzw. des sunnitischen Aufstands eine Normalisierung des gesellschaftlichen Lebens der Nordhälfte des Landes schwer bis unmöglich machen. Nach Urteil des britischen Nahost- und Kriegskorrespondenten Patrick Cockburn ist die militärische Leistung der IS-Kämpfer bei der Verteidigung von Mossul "beeindruckend" gewesen. Obwohl in weit geringerer Anzahl als die Angreifer haben die Dschihadisten den irakischen Streitkräften über Monate mittels Scharfschützen, Hinterhalten und Selbstmordanschlägen schwere Verluste zugefügt, schrieb Cockburn am 6. Juli im britischen Independent. In einem Artikel, der bereits am 30. Juni bei der New York Times erschienen ist, hat ähnlich Cockburn der Sicherheitsexperte William McCants von der Washingtoner Brookings Institution und Autor der neuen Studie "The ISIS Apocalypse: The History, Strategy and Doomsday Vision of the Islamic State" vor der nächsten Phase im irakischen Bürgerkrieg gewarnt.

Aus jener Studie geht hervor, daß der IS in jenen mehrheitlich sunnitischen Städten, die seit 2014 im Rahmen großangelegter Säuberungsaktionen von der irakischen Armee und Polizei "befreit" worden sind, weiterhin hoch aktiv ist. In Tikrit, Ramadi und Falludscha zum Beispiel kommt es fast täglich zu Überfällen und Bombenanschlägen der Gotteskrieger. Selbst im Ostmossul, das sich nominell seit Februar wieder unter staatlicher Kontrolle befindet, ist es im März und April jeweils zu 130 "Terrorangriffen" gekommen. Sowohl Cockburn als auch McCants gehen davon aus, daß der IS künftig aus den Untergrund operieren und die entlegene Wüstenregion beiderseits der irakisch-syrischen Grenze als Operationsbasis und Rückzugsgebiet nutzen wird. Daher auch die Ankündigung des US-Generalleutnants Stephen Townsend, der Oberbefehlshaber der internationalen Anti-IS-Koalition ist, wonach die US-Streitkräfte "noch lange" im Irak und Syrien sein würden, um sich dem "eher ländlichen Aufstand IS 2.0" zu widmen.

2011 im Rahmen des Arabischen Frühlings haben Iraks Sunniten in friedlichen Demonstrationen gegen ihre Diskriminierung und Benachteiligung durch die Zentralregierung protestiert. Doch Bagdad hat auf die zivilen Kundgebungen mit Polizei- und Militärgewalt reagiert, was dem IS, dem früheren Al Kaida im Irak, enormen Auftieb verlieh. Die brutalen Militäroffensiven der letzten drei Jahre hat die wichtigsten sunnitischen Städte des Iraks in Ruinenlandschaften verwandelt. Wegen Geldmangels und der zahlreichen Blindgänger tritt der Wiederaufbau auf der Stelle. Arbeitslosigkeit und Ressourcenknappheit herrschen vor. Hinzu kommt, daß nach der Einnahme jeder Stadt viele männliche Zivilisten dem Übereifer der schiitischen Milizionäre, aller IS-Anhänger oder -Sympathisanten habhaft zu werden, zum Opfer gefallen sind. Die Sunniten fühlen sich im eigenen Land verfolgt. Nicht wenige von ihnen hegen wegen der Ermordung und/oder Verschleppung ihrer Väter und Brüder Rachegelüste. An kampfwilligen Rekruten dürfte es deshalb dem IS kurz- bis mittelfristig nicht mangeln.

Hinzu kommen die geopolitischen Rahmenbedingungen, welche eine Versöhnung zwischen Iraks Sunniten und Schiiten unmöglich machen. Seit dem Sturz Saddam Husseins 2003 infolge einer illegalen angloamerikanischen Invasion ringen die USA und der Iran um Einfluß im Irak im allgemeinen, in Bagdad im besonderen. Der unerklärte Krieg zwischen Teheran und Washington hat sich 2011 auf Syrien ausgeweitet und dadurch das Zusammenleben der einfachen Menschen zwischen Mittelmeer und Persischen Golf zusätzlich erschwert. Hatte Barack Obama als US-Präsident durch das Atomabkommen mit dem Iran die Beziehung zwischen Washington und Teheran zu normalisieren versucht, so heizt sein Nachfolger Donald Trump den sunnitisch-schiitischen Konflikt auf unverantwortliche Weise auf, stellt sich eindeutig auf die Seite Saudi-Arabiens - siehe die Katar-Krise - und macht die Iraner für jegliches Unheil im Nahen Osten verantwortlich. Vor diesem Hintergrund dürfte die gerade zu Ende gehende Schlacht um Mossul als eine, wenn auch sehr blutige Episode eines größeren Infernos, das noch lange nicht zu Ende ist und sich jede Zeit erheblich ausweiten kann, in die Geschichtsbücher eingehen.

7. Juli 2017


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang