Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → REDAKTION


NAHOST/1586: Zweistaatenlösung - indessen außer Reichweite ... (SB)


Zweistaatenlösung - indessen außer Reichweite ...


Das Massaker, das die israelischen Streitkräfte am Karfreitag, den 31. März, an der Grenze zum Gazastreifen angerichtet haben, ist die endgültige Absage Tel Avis an eine Zweistaatenlösung für den Nahostkonflikt. Diese Lösung setzte voraus, daß beide Parteien künftig partnerschaftliche Beziehungen pflegen. Doch mit der Ermordung von 15 zumeist unbewaffneten Demonstranten am hellichten Tag gibt die rechtsgerichtete Regierung Benjamin Netanjahus zu erkennen, daß für sie die Palästinenser keine Partner, sondern lediglich ein lästiger Störfaktor sind, der auf dem Weg zur Errichtung Großisraels so oder so beseitigt werden muß.

Am besagten Tag wollten die Palästinenser zu Zehntausenden ihren Tag des Bodens feiern und damit der sechs Volksgenossen gedenken, die 1976 bei Protesten gegen die Enteignung ihrer Grundstücke in Norden Israels von der israelischen Armee erschossen worden waren. Gleichzeitig sollten die diesjährigen Feierlichkeiten - eine Mischung aus Volksfest und politischer Kundgebung mit Reden und musikalischen Darbietungen - den Auftakt zum sogenannten Rückkehrmarsch bilden, mit dem die Palästinenser im Westjordanland und im Gazastreifen an ihre Vertreibung vor siebzig Jahren erinnern wollten. Die Protestaktionen in Verbindung mit dem Rückkehrmarsch sollen bis zum 15. Mai andauern. Dieses Datum im Jahre 1948 markiert den Tag nach der Gründung des Staates Israel und zugleich den Beginn der palästinensischen Nakba (Katastrophe).

An der Grenze zum Gazastreifen und zum Westjordanland befanden sich am Karfreitag, der in diesem Jahr mit dem jüdischen Pessach-Fest zusammenfiel, die israelischen Streitkräfte im Alarmbereitschaft. An strategischen Positionen um Gaza herum war mit Planierraupen ein Erdwall errichtet worden, hinter dem sich Dutzende Scharfschützen in Stellung gebracht hatten. Gleich am frühen Morgen, bevor sich irgendeiner der rund 30.000 Demonstranten in Grenznähe begeben hatte, gab es den ersten Toten. In der Nähe von Chan Yunis starb der Bauer Omar Samur, als er auf seinen eigenen Feldern arbeitete - getötet durch eine Panzergranate. Später hieß es seitens des israelischen Militärs, der 27jährige Familienvater habe "sich verdächtig verhalten". Es drängt sich hier der Verdacht auf, daß die Israelis mit der Ermordung von Samur die palästinensischen Jugendlichen provozieren wollten, damit aus dem geplanten Volksfest jene "Zusammenstöße" wurden, über die später im Laufe des Tages weltweit berichtet werden sollte.

Doch von "Zusammenstößen" kann hier keine Rede sein, es sei denn, man übernimmt eins zu eins die israelische Betrachtungsweise. Zu keinem Zeitpunkt waren die israelischen Soldaten, die mit Waffengewalt auf der palästinensischen Seite der Grenze eine Pufferzone von mehreren hundert Metern durchsetzten, in irgendeiner Gefahr. Die meisten Todesopfer waren nicht einmal in unmittelbarer Nähe des Grenzzauns zu beklagen. Ein Palästinenser erhielt einen tödlichen Schuß in den Kopf, als er gerade eine Zigarette rauchte; ein Jugendlicher starb, nachdem er in den Rücken geschossen worden war. Zwei Hamas-Aktivisten kamen um, als sie sich der Grenze näherten und selbst Schüsse abfeuerten. Doch zu diesem Zeitpunkt waren bereits zwölf Palästinenser tot. Auf vereinzelte Steine und Molotow-Cocktails, die meist aus harmloser Distanz in Richtung Grenzzaun geworfen wurden, haben Israels Scharfschützen mit tödlicher Präzision und modernster Waffentechnologie geantwortet. Verhältnismäßigkeit der Mittel sieht anders aus. Zu den Getöteten kamen mehr als 750 Verletzte. Viele von ihnen haben Schußwunden erlitten, andere sind aufgrund des Tränengases, das die Israelis per Drohne auf die palästinensische Menschenmenge abwarfen, in ihrer Gesundheit schwer beeinträchtigt worden.

Die Reaktionen auf das Blutbad fielen zwar unterschiedlich, jedoch recht vorhersagbar aus. Netanjahu lobte seine Soldaten für ihre heldenhafte Aufrechterhaltung der Sicherheit Israels; Verteidigungsminister Avigdor Lieberman will die Beteiligten an dem Einsatz auszeichnen. Israel hat eine internationale Untersuchung des Vorfalls kategorisch abgelehnt und erhält hierfür von den USA Rückendeckung. Donald Trumps UN-Botschafterin Nikki Haley hat eine von Kuwait eingebrachte Resolution, in der das Geschehen lediglich mit Sorge registriert werden sollte, gleich von vornherein blockiert. Bis auf den linken Senator Bernie Sanders aus Vermont wollte in den USA niemand die Vorkommnisse kritisch kommentieren. Seitens des UN-Generalsekretärs António Guterres und der Außenbeauftragten der EU, Federica Mogherini, gab es die üblichen Floskeln des Bedauerns.

Lediglich die Regierung des Irans und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan ergriffen Partei für die Palästinenser. Erdogan, der im eigenen Land autokratisch herrscht und aktuell in Nordsyrien selbst mit den militärischen Muskeln spielt, bezeichnete Netanjahu als "Terroristen". Die Arabische Liga hat zu einer Dringlichkeitssitzung aufgerufen, von der nichts als Lippenbekenntnisse zu erwarten sind. Gerade an dem Wochenende, an dem die Palästinenser die schwersten Verluste durch die Israelis seit 2014 zu erleiden hatten, gab der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman, der sich derzeit zu einem dreiwöchigen Besuch in den USA aufhält, der Zeitschrift Atlantic ein Interview, in dem er als erster Vertreter Riads das Existenzrecht Israels anerkannte.

Unter der Federführung von Trump und dessen Schwiegersohn Jared Kushner, einem Freund der Familie Netanjahus, hat sich Saudi-Arabien in eine heimliche Allianz mit Israel begeben, die mit jedem Tag offensichtlicher wird. Letzte Woche durfte erstmals eine Passagiermaschine - ein Flugzeug der Air India - auf dem Weg von Asien nach Israel den saudischen Luftraum durchqueren und damit die Flugzeit reduzieren. Das sunnitische Saudi-Arabien und Israel meinen im schiitischen Iran die größte Bedrohung ihre Existenz als Staaten zu erkennen. Für Tel Aviv ist die ungebrochene Solidarität Teherans mit den Palästinensern ein Dauerärgernis. Für wahre Unsummen decken sich die Saudis mit amerikanischen Rüstungsprodukten - darunter Raketenabwehrsystemen - ein. Man geht davon aus, daß die Spannungen im Nahen Osten erheblich zunehmen werden, wenn Trump auf Drängen Netanjahus am 12. Mai den internationalen Atomvertrag mit dem Iran aufkündigt. Ein solcher Schritt dürfte die Proteste der Palästinenser Mitte desselben Monats gegen 70 Jahre Repression und Mißhandlung in den Schatten stellen. Ohnehin hat vor wenigen Tagen Trump mit John Bolton einen neuen nationalen Sicherheitsberater ernannt, der offen für die Eingliederung der jüdischen Siedlungen im Westjordanland in den Staat Israel, die Übergabe der Verantwortung für die übriggebliebenen Restgebiete an Jordanien und die Übernahme des Gazastreifens durch das Ägypten von Diktator Abdel Fatah Al Sisi plädiert. Aus den Plänen Washingtons und Tel Avivs ist die Zweistaatenlösung längst getilgt worden.

3. April 2018


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang