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NAHOST/1599: Libyen - Scheingelegenheiten ... (SB)


Libyen - Scheingelegenheiten ...


Frankreich nutzt die politische Krise in Rom nach den italienischen Parlamentswahlen, aus denen Anfang März die rechtsextreme La Liga und die linkspopulistische Fünf-Sterne-Bewegung als Sieger hervorgingen, um seinen Einfluß in Libyen, der früheren Kolonie Italiens, auszubauen. Am 29. Mai empfing Präsident Emmanuel Macron die wichtigsten, bisher heillos zerstrittenen politischen Akteure Libyens zu einem Treffen im Pariser Élysée-Palast, bei dem diese pflichtgemäß Besserung gelobten und die Ausarbeitung eines neuen Wahlrechts bis September sowie die Abhaltung von Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Dezember versprachen. Viele Beobachter halten den ehrgeizigen Zeitplan, der den Segen des UN-Sondergesandten für Libyen und ehemaligen libanesischen Kulturminister Ghassan Salamé trägt, für unrealistisch, wenn nicht sogar illusorisch.

Seit dem gewaltsamen Sturz des "Regimes" Muammar Gaddhafis 2011 kommt Libyen nicht zur Ruhe. Es herrscht keine einheitliche staatliche Autorität mehr, sondern die verschiedenen Gruppen, Städte, Milizen und Stämme ringen um eigene Herrschaftsgebiete, bekämpfen sich oder arrangieren sich mit wechselnden Bündnissen. Es gibt zwei Regierungen, die sich gegenseitig jede Legitimität absprechen. In östlichen Tobruk sitzt das Repräsentantenhaus, dessen Vertreter 2014 bei allgemeinen Wahlen gewählt wurden, jedoch kurz darauf aus Angst vor Attentaten islamistischer Gruppen aus der Hauptstadt Tripolis geflohen waren. Das House of Representatives (HoR) steht unter dem Schutz von Ex-General Khalifah Hifter, der die übriggebliebenen Teile der Streitkräfte Gaddhafis zur Libyschen Nationalarmee (LNA) geformt hat und seit 2014 im Osten des Mittelmeerstaats eine Offensive gegen Gruppen wie Ansar Al Scharia und Islamischer Staat (IS) führt.

In Tripolis residiert seit 2016 die Regierung der Nationalen Einheit (Government of National Accord - GNA) um Premierminister Fayiz Al Sarradsch, einen ehemaligen Geschäftsmann. Um zu überleben, hat sich die GNA mit den islamistischen Gruppen in der Hauptstadt arrangiert, die nach dem Tod Gaddhafis die erste provisorische Volksversammlung, den Allgemeinen Volkskongreß, dominiert haben. Im Rahmen des UN-Friedensplans von 2015 wurde ein Hoher Staatsrat gegründet, der Premierminister Al Sarradsch unterstützen und zwischen Allgemeinem Volkskongreß und dem HoR vermitteln sollte. Seit April dieses Jahres wird der Hohe Staatsrat von Khalid Al Mishri, Mitglied sowohl der Gerechtigkeits- und Wiederaufbaupartei als auch der Moslembruderschaft, geleitet.

An Macrons großem Libyen-Powwow an der Seine nahmen aus Tripolis Al Sarradsch und Al Mishri und aus Tobruk Hifter sowie HoR-Sprecher Aguila Saleh Issa El Obeidim teil. Beschlossen haben die vier Männer die Rückkehr des HoR nach Tripolis, die "Wiedervereinigung der Staatsbank und der anderen libyschen Institutionen" und die Zusammenlegung der LNA und der wichtigsten Milizen zwecks Bildung einer Nationalarmee, die diesen Namen verdient. Bezeichnenderweise wurde nichts schriftlich festlegt, sondern wurden lediglich gegenseitige mündliche Zusicherungen gemacht. Gastgeber Macron führte den protokollarischen Schönheitsfehler auf den Umstand zurück, daß die Anwesenden die Vereinbarungen mit ihren eigenen politischen Verbündeten in Libyen besprechen und von diesen ratifizieren lassen müßten.

Bereits im Frühjahr 2018 hatte Macron nach nur wenigen Wochen im Amt als französischer Präsident Al Sarradsch und Hifter nach Paris geholt, um diese zur Versöhnung und Zusammenarbeit zu drängen. Gebracht hat der damalige Einsatz nichts. Von daher darf man Zweifel haben, daß das Ergebnis diesmal ein anderes sein wird. Gleichwohl ist seitdem das Interesse Frankreichs, das neben Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten zu den wichtigsten militärischen Unterstützern Hifters gehört, an einem Ende des politischen Chaos in Libyen stark gestiegen. Im April hat das französische Mineralölunternehmen Total für 450 Millionen Dollar dem US-Energiekonzern Marathon seinen 16,33 prozentigen Anteil am libyschen Waha-Ölfeld abgekauft. Die anderen Anteilseigner des gigantischen Ölvorkommens im Sirte-Becken sind Libyens National Oil Corporation (NOC), dessen Einnahmen direkt an die Nationalbank fließen, und der in New York ansässige Ölförderkonzern Amerada Hess.

Seit Anfang Mai versucht Hifters LNA die letzte islamistische Hochburg im Osten, die Stadt Derna, die zwischen Benghazi und der ägyptischen Grenze liegt, zu erobern. Doch die Kämpfer des dort ansässigen Derna-Mudschaheddin-Schura-Rates leisten erbitterten Widerstand. Genaue Angaben über die Anzahl der Getöteten und Verletzten gibt es nicht. Mindestens 27 Menschen sollen getötet, 44 verletzt und mehr als 500 Familien vor den Kämpfen geflohen sein. Dies berichtete am 25. Mai Middle East Eye unter Verweis auf Zahlen der UN Support Mission in Libya (UNSMIL). Mit der Großoperation will Hifter nach einem angeblichen Hirnschlag im April Macht und körperliche Unversehrtheit demonstrieren und sich somit als geeignetster Kandidat bei der geplanten Präsidentenwahl im Dezember empfehlen.

In anderen Teilen Libyens reißt die Gewalt ebenfalls nicht ab. Am 2. Mai stürmten zwei IS-Anhänger das Hauptbüro der staatlichen Wahlkommission in Tripolis, schossen wild um sich und sprengten sich anschließend in die Luft. Bei dem Überfall kamen mindestens 15 Menschen ums Leben. In Benghazi, die Hifters LNA 2017 nach einem mehrjährigen Kampf von Dschihadisten endlich gesäubert haben wollte, kamen am 8. Mai zwei Menschen und am 25. Mai sieben durch Autobomben ums Leben. In der südlichen Stadt Sabha kommt es immer wieder zu tödlichen Überfällen und Vergeltungsaktionen unter den dort lebenden Stämmen. Man darf gespannt sein, ob der ambitionierte Zeitplan für Wahlen in Libyen eingehalten werden kann und, wenn ja, ob Gaddhafi-Sohn Saif Al Islam, wie im März angekündigt, seine Kandidatur für die Präsidentschaft als Vertreter der Libyschen Volksfront wahrnimmt.

1. Juni 2018


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