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NAHOST/1630: Syrien - USA suchen Kriegslegitimation ... (SB)


Syrien - USA suchen Kriegslegitimation ...


Schlagzeilen, empörte Kommentare und verdammende Leitartikel gibt es in den westlichen Medien für zivile Opfer des Syrienkriegs offenbar nur, wenn diese durch Bomben und Raketen der russischen und syrischen Streitkräfte ums Leben kommen. Anders ist die unterschiedliche Berichterstattung im Jahr 2017 über die russisch-syrische Rückeroberung der Rebellenhochburg Ostaleppo im Nordwesten Syriens und die Großoffensive der US-Streitkräfte und ihrer kurdischen Verbündeten gegen Rakka, damals noch "Hauptstadt" des Kalifats der "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) im gleichnamigen Gouvernement im syrischen Norden, nicht zu verstehen. In beiden Fällen kamen Tausende Zivilisten ums Leben, doch nur Russen und Syrern wurde fehlende Rücksicht auf Nicht-Kombattanten vorgeworfen, Mordabsicht unterstellt.

Während in Aleppo inzwischen der Wiederaufbau und die Wiederansiedlung heimkehrender Kriegsflüchtlinge auf Hochtouren läuft, gleicht Rakka einer gigantischen Trümmerlandschaft, unter der noch unzählige Leichen und Blindgänger liegen und in der Seuchen grassieren. Wie das Nachrichtenportal Middle East Eye am 18. Oktober unter Verweis auf die saudische Tageszeitung Al Hayat berichtete, ist das Stadtzentrum von Rakka samt Amtsgebäuden, Schulen und Krankenhäusern zu 80 Prozent zerstört. Dort steht keine einzige Struktur mehr, die höher als ein Stockwerk wäre. Die Stadt hat 30.000 Wohnungen durch Bombardements oder Aufräumarbeiten ganz verloren. Weitere 25.000 gelten als "schwer beschädigt". Mehr als 60 Brücken bedürfen der Reparatur oder müssen ersetzt werden. Über die traurigen Verhältnisse in Rakka erfährt man im NATO-Gebiet wenig.

Auch die jüngsten Angriffe der US-Luftwaffe, die am 18., 19. und 20. Oktober Dutzende Zivilisten im ostsyrischen Gouvernement Deir ez-Zor das Leben kosteten, waren beiderseits des Nordatlantiks kein Anlaß zu einer umfangreichen Berichterstattung, geschweige denn zu einem Nachdenken über Sinn und Zweck der westlichen Kriegsintervention in Syrien. Bei den Bombenabwürfen auf eine Moschee und mehrere umliegende Wohnhäuser in der Kleinstadt Al Sousa kamen nach Angaben der in Großbritannien ansässigen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte 63 Zivilisten und 22 IS-Kämpfer ums Leben. Die syrische Regierung hat den Vorfall als Teil einer illegalen Aggression aufs Schärfste verurteilt. Im Namen der Vereinigten Staaten erklärte der Pentagonsprecher, Armeeoberst Sean Ryan, die Operation sei kriegsrechtlich einwandfrei weil gegen ein militärisches Ziel gerichtet gewesen. Er äußerte sein Bedauern angesichts eventueller ziviler Opfer und gab dem IS die Schuld wegen der angeblichen Nutzung der Moschee als Waffenlager und Dschihadisten-Treffpunkt.

Al Sousa liegt im Rückzugsgebiet des IS in der Wüstenregion im Osten Deir ez-Zors, nahe der Grenze zum Irak. Seit Mitte September gehen die US-Streitkräfte und die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), deren Mitglieder sich zum größten Teil aus der syrisch-kurdischen Kampfformation YPG, Ablegerin der türkisch-kurdischen PKK, rekrutieren, dort nach eigenen Angaben verstärkt gegen den IS vor. Daran hat man in Moskau und Damaskus erhebliche Zweifel, seit führende Vertreter der Regierung von US-Präsident Donald Trump, allen voran Außenminister Mike Pompeo, Verteidigungsminister James Mattis und der Nationale Sicherheitsberater John Bolton, in den letzten zwei Monaten bei diversen Anlässen erklärt haben, die amerikanischen Streitkräfte würden solange in Syrien bleiben, bis nicht nur der IS besiegt worden sei, sondern auch alle iranischen Militärs nach Hause zurückgekehrt seien und eine "demokratische" Regierung - gemeint ist eine ohne Präsident Baschar Al Assad - an der Macht sei.

Offenbar ist der Wille Washingtons, das Projekt "Regimewechsel in Damaskus" trotz der Niederlage der Rebellen nach sieben Jahren Krieg doch noch durchzudrücken, ungebrochen. Zu diesem Zweck hat das US-Militär nicht nur rund 20 Basen, darunter mehrere mit Start- und Landebahnen, im kurdischen Siedlungsgebiet an der Grenze zur Türkei im Norden Syriens eingerichtet, sondern auch den strategisch wichtigen Knotenpunkt Al Tanf im Osten des Gouvernements Homs besetzt. Dort haben sich rund 300 Soldaten, die meisten von ihnen Amerikaner, aber auch ein Kontingent französischer Fallschirmjäger, niedergelassen und eine "demilitarisierte Zone" eingerichtet, die sich quasi über das Grenzdreieck Syrien-Irak-Jordanien erstreckt und durch die die wichtigste Verbindungsstraße zwischen Damaskus und Bagdad verläuft. Bei mehreren Schießereien haben die NATO-Truppen ihre Bereitschaft, Al Tanf notfalls vor vorrückenden syrische Soldaten zu verteidigen, unter Beweis gestellt. Um die Position bei Al Tanf zu halten, hat das US-Verteidigungsministerium im September 100 Marines zur Verstärkung dorthin abkommandiert.

Das alles ist natürlich völkerrechtlich illegal. Die Regierung Syriens hat lediglich Rußland und den Iran um militärischen Beistand bei der Aufstandsbekämpfung gebeten. Die USA haben sich 2014 unter dem Vorwand der "Terrorbekämpfung" in den Syrienkrieg eingemischt und wollen offenbar - IS-Existenz hin oder her - bleiben, um "den unheilvollen Einfluß" Teherans zurückzudrängen. Bei der Mission leisten die US-Medien dem Pentagon wichtige Schützenhilfe. Statt über das für die USA wenig schmeichelhafte Blutvergießen bei Al Sousa zu berichten, wartete am 22. Oktober die New York Times mit einem herzzerreißenden Bericht über die desaströsen Zustände im Flüchtlingslager Rukban auf, wo rund 50.000 Menschen in Bretterbuden vor sich hin vegetieren, Sandstürmen ausgeliefert sind und nicht genug zu essen haben. Doch es drängt sich der Verdacht auf, daß das Hauptinteresse des führenden Sprachrohrs des US-Imperialismus nicht darin bestand, Mitleid für das Schicksal der Flüchtlinge zu erwecken, sondern die Tatsache hervorzuheben, daß sie den Schutz der US-Streitkräfte bei Al Tanf genießen. Mit dem Artikel "Misery 'Every Day, Every Hour' in Syrian Camp. And Now, It's Grown Critical" haben die NYT-Reporter Hwaida Saad und Megan Specia der US-Militärpräsenz in Syrien einen humanitären Anstrich verliehen.

Nicht weniger "eingebettet" waren die Reporter von NBC News und der Nachrichtenagentur Associated Press, die vor wenigen Tagen den Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte im Nahen Osten, Armeegeneral Joseph Votel, bei einer streng geheimen Reise nach Al Tanf begleiten und somit als erste Pressevertreter überhaupt Amerikas Brückenkopf in Ostsyrien betreten und besichtigen durften. Entsprechend patriotisch fielen die Artikel der beiden Redaktionen aus, die im Internet am 22. Oktober (Associated Press) und am 23. Oktober (NBCNews.com) erschienen. Dort erklärte Votel, der Auftrag der Soldaten in Al Tanf bestehe hauptsächlich in der Ausbildung von mindestens 100 Kämpfern der Gruppe Maghawir al Thawra (MAT), die aus früheren Mitgliedern der nicht mehr existierenden Freien Syrischen Armee (FSA) besteht, sowie der Bekämpfung des IS.

Selbst wenn der anti-iranische Charakter der amerikanischen Besetzung von Al Tanf nicht explizit zum Ausdruck gebracht wurde, räumte der CENTCOM-Chef im typischen Pentagonsprech doch folgendes ein: "Ich will nicht verhehlen, daß unsere Präsenz, die Zusammenarbeit mit unseren Partnern und der Ausbau der Beziehungen hier einen indirekten Effekt auf einige der üblen Aktivitäten hat, die der Iran und seine Stellvertreter und Verbündeten in der hiesigen Gegend entfalten möchten." Nach der etwas gewundenen Beschreibung der taktischen Überlegungen kam Votel auf das strategische Ganze zu sprechen: "Der fortgesetzte Druck, den wir hier ausüben, ist für die Diplomaten eine wirklich große Hilfe, wo sie doch jetzt mit der Suche nach einer politischen Lösung beginnen, die hier schließlich erforderlich sein dürfte." Gemeint sind damit sicherlich lediglich die Diplomaten aus Washington, London und Paris und nicht die aus Damaskus, Moskau oder Teheran.

25. Oktober 2018


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