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SOZIALES/2091: Bildung wofür? - Anmerkungen zum Welttag der Alphabetisierung (SB)


An bemerkenswerten Vorbildern fehlt es nicht


Zum heute begangenen Welttag der Alphabetisierung drängt sich eine Reihe von Fragen auf, die der beruhigenden Gewißheit, man sei ungeachtet aller Rückschläge prinzipiell auf dem richtigen Weg, einen gehörigen Stoß versetzen sollten. Schon die Welttage als solche geben Anlaß zum Zweifel am Nutzen solcher institutionalisierten Erinnerungsstützen an das Elend in der Welt, die offenbar eher zur Immunisierung geeignet sind, als daß sie zur Konfrontation mit den Ursachen des Mangels und nicht zuletzt der eigenen Beteiligung daran ermutigten. Auch die von überstaatlichen Institutionen wie den Vereinten Nationen allenthalben abgesonderten Entwicklungsziele, die sich in der Regel als Makulatur erweisen, müssen sich die Kritik gefallen lassen, es handle sich dabei eher um gezielt eingesetzte Fiktionen, die das tatsächliche Ausmaß des Verhängnisses verschleiern und administrieren sollen. So hatten sich vor zehn Jahren auf dem Weltbildungsforum in Dakar 164 Länder dazu verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, daß mehr Menschen lesen und schreiben können. Wie der aktuelle Weltbildungsbericht der UNESCO belegt, nehmen sich die Fortschritte jedoch ausgesprochen bescheiden aus.

Weithin unterbelichtet ist heute die Frage, ob Alphabetisierung per se als Fortschritt in einem emanzipatorischen Sinn einzustufen sei oder nicht vielmehr der Bedarfslogik ausbeutungsgestützter Verwertungszwänge folgt. Als dies noch ein diskussionswürdiges Thema war, existierte ein Bewußtsein der Problematik, daß neutrales Lernen im Grunde unmöglich sei, da mit Form und Inhalt des Unterrichts die gesellschaftlichen Verhältnisse transportiert und perpetuiert würden. Ausgiebig studierte man existierende Reformansätze einer "Pädagogik der Unterdrückten" und stritt darum, ob so etwas möglich oder nicht vielmehr schon ein Widerspruch in sich sei. Gemessen an diesem Stand des Diskurses, der in Vergessenheit zu geraten droht, mutet die längst bevorzugte Formel von der Informationsgesellschaft wie ein Rückfall in die Steinzeit denkgeschichtlicher und handlungspraktischer Errungenschaften an.

Welche Auswüchse ein nicht reflektierter Informationsbegriff zur Folge hat, zeigt insbesondere die populäre Auffassung, im Internet sei das Wissen der Menschheit verfügbar und könne allen zugänglich gemacht werden. Nicholas Negroponte, Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT), gilt in diesem Zusammenhang als Urheber der Idee, alle Schulkinder mit preisgünstigen Laptops auszustatten und die globale Gesellschaft in nur zwanzig Jahren bedeutend kreativer zu machen, die Armut auszurotten und den Weltfrieden zu sichern. Auf Grundlage fiktiver Berechnungen blies man diese und andere Ideen zu regelrechten Luftschlössern auf, um dem Unkundigen weiszumachen, die Bewältigung existentieller Probleme sei gar nicht teuer und mit ein wenig gutem Willen sofort umsetzbar.

Daß Menschen mit Lesen und Schreiben der Armut entkommen könnten, ist am heutigen 8. September eine dem Anlaß geschuldete Tageslosung, die in Frage zu stellen wohl einer Blasphemie gleichkäme. Wenngleich zweifellos ein enger Zusammenhang zwischen Armut und fehlenden Bildungsmöglichkeiten besteht, läßt sich allein daraus doch kein allgemeingültiger Lösungsansatz ableiten. Bemerkenswerte Erfolge der Alphabetisierung, wie sie allen voran Kuba und Venezuela, sowie mit deren Unterstützung auch Nicaragua und Bolivien vorzuweisen haben, sind untrennbar mit den in diesen Ländern durchgesetzten Gesellschaftsentwürfen oder zumindest weitreichenden Reformprozessen verbunden.

In Venezuela leitete die Regierung ab 2003 Sozialprogramme ein, die als Missionen bezeichnet wurden. Die Rückgewinnung der Kontrolle über den staatlichen Erdölkonzern PDVSA nach den Auseinandersetzungen der Jahre 2002 und 2003 generierte Einnahmen, die eine Reaktion auf drängende Mißstände in der Gesellschaft ermöglichte. Die dadurch verfügbar gemachten Mittel kamen zu einem Großteil diesen sozialen Aktivitäten zugute. Dank der erfolgreichen Alphabetisierungskampagne "Mission Robinson" konnte sich Venezuela 2005 zum zweiten vom Analphabetismus befreiten Gebiet Lateinamerikas nach Kuba erklären. Nicht minder bedeutend ist die medizinische Mission "Barrio Adentro" in ihren verschiedenen Stufen, die eine kostenlose ärztliche Betreuung der Bevölkerung gewährleistet. Nach Angaben der venezolanischen Regierung werden derzeit insgesamt 28 derartige Missionen durchgeführt, die sich auf verschiedene Bereiche konzentrieren.

Maßgeblich für das Entwicklungspotential und den Erfolg der Missionen waren ein umfassender Ansatz zur Behebung der Armut, die Unterstützung durch kubanische Experten und insbesondere eine weitreichende Beteiligung der Bevölkerung. Als ein weiteres Beispiel für diese Einbettung der Alphabetisierung in eine umfassende Armutsbekämpfung ist Nicaragua zu nennen. Dort wurden die sozialen Fortschritte, die während der 1980er Jahre unter den Sandinisten im Bildungs- und Gesundheitswesen erzielt worden waren, drastisch zurückgeschraubt. Das Versprechen des sogenannten freien Marktes, Nicaragua werde eine wirtschaftliche Blüte erfahren, erfüllte sich nicht. Für die breite Mehrheit der Menschen war dies eine wirtschaftliche Katastrophe, während sich die wenigen Wohlhabenden ihre Tage vergoldeten. Als Daniel Ortega in den Präsidentenpalast zurückkehrte, besuchte eine Million Kinder im Schulalter keinen Unterricht, beendeten nur 29 Prozent aller Kinder die Grundschule, war die Alphabetisierungsrate von 90 Prozent im Jahr 1990 auf unter 68 Prozent gesunken, hatte über die Hälfte der Bevölkerung keinen Zugang zu elementarer medizinischer Versorgung.

Im Mai 2009 lobte die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) die nicaraguanische Regierung für ihre vorbildliche Politik bei der Nahrungsmittelsicherheit. Zudem galt die Alphabetisierung als erfolgreich, war das Gesundheitswesen kostenlos, wurde die Sozialversicherung wieder eingeführt und das Bildungswesen entprivatisiert, erhielten arme Bauernfamilien Kredite und ebenso wie Kinder besondere Leistungen, um nur die wichtigsten Maßnahmen zu nennen. Dabei greifen die Bürgerkomitees auf ein Konzept direkter Demokratie zurück, während Nicaragua außenpolitisch Mitglied des Bolivarianischen Bündnisses für die Völker Amerikas (ALBA) ist.

Anfang Februar 2010 konnte Präsident Ortega bekanntgeben, daß seit 2007 fast 500.000 Menschen in Nicaragua lesen und schreiben gelernt hätten. Die Alphabetisierungskampagne, die mit Hilfe Kubas, Venezuelas und europäischer Staaten betrieben wird, bezieht nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene ein, die bislang des Lesens und Schreibens unkundig waren. Trotz der erzielten Erfolge gebe es keinen Grund, "sich in Zufriedenheit zu üben", betonte Ortega. Die Alphabetisierung der Bevölkerung müsse weitergeführt werden, um gegen die Armut zu kämpfen.

Auch die bolivianische Regierung propagierte eine "Politik des Wandels", die kein leeres Versprechen blieb. Sozialprogramme wie kostenlose medizinische Versorgung, Alphabetisierung, höhere Renten, Muttergeld und Schulbonus kamen großen Teilen der mittellosen Bevölkerung zugute. Wiederum war die Hebung des Bildungsstands integraler Bestandteil eines breit angelegten Ansatzes, die soziale Lage entscheidend zu verbessern.

Brasiliens scheidender Präsident Luiz Inácio Lula da Silva hatte in seiner Kindheit die Schule bereits nach der vierten Klasse verlassen und dürfte daher - gemessen an formalen Kriterien - der am wenigsten gebildete Staatschef in der Geschichte seines Landes sein. Dessen ungeachtet ist ihm der Rang des populärsten brasilianischen Präsidenten kaum noch zu nehmen, da er Sozialprogramme mit wirtschaftsfreundlichen Maßnahmen verband, das Land relativ unbeschadet durch die weltweite Krise führte und dessen Anspruch vorantrieb, sich im Kreis der führenden Mächte Gehör zu verschaffen.

Allerdings konnte das Bildungswesen mit dem rasanten Aufschwung nicht mithalten, so daß der ungenügende Bildungsstand zur Achillesferse des brasilianischen Höhenflugs zu werden droht. Wie es in einer Studie der Weltbank von 2008 hieß, führe in einem Zeitalter globalen Wettbewerbs der aktuelle Bildungsstand Brasiliens dazu, daß das Land mit hoher Wahrscheinlichkeit bei der Suche nach Investitionen und wirtschaftlichen Wachstumschancen hinter seine ebenfalls aufstrebenden Konkurrenten zurückfallen werde.

Viele Eltern schicken ihre Kinder nur deshalb zur Schule, weil die unter Präsident da Silva erheblich ausgeweitete Unterstützung armer Familien an den Schulbesuch gekoppelt ist. In seiner Amtszeit hatte die Bildungspolitik jedoch einen ausgesprochen langsamen Start und begann erst 2007 zu greifen, als bereits vier Jahre der Präsidentschaft verstrichen waren. Mit Blick auf seinen Platz in der Geschichte macht ihm dieses gravierende Versäumnis offensichtlich schwer zu schaffen, da die Bildungsfrage nach Aussage des dafür verantwortlichen Ressortchefs inzwischen zu einer "Obsession" des Präsidenten geworden ist.

Eine Studie der Regierung kam im März zu dem bestürzenden Schluß, daß von den rund 25 Millionen Arbeitskräften, die der Wirtschaft in diesem Jahr zur Verfügung stehen, mehr als 22 Prozent nicht für die Anforderungen qualifiziert sind. Wirtschaftskreisen zufolge sind Zehntausende Stellen unbesetzt geblieben, da es an geeigneten Bewerbern fehlt. Wie die Weltbank warnt, müsse Brasilien diese Lücke im Bildungsbereich unbedingt schließen, um nicht das "demographische Fenster" der nächsten beiden Jahrzehnte zu versäumen, in denen sich die "wirtschaftlich aktive Bevölkerung auf dem Höchststand befindet".

Die Versäumnisse in der Bildungspolitik könnten sich für Brasilien bitter rächen, das in Konkurrenz zu China, Indien und Rußland zurückzufallen droht. Nach Angaben der UNESCO ist es China gelungen, in zwei Jahrzehnten 100 Millionen Menschen zu alphabetisieren. Zu den Ländern, die Analphabetismus erfolgreich bekämpfen, gehört auch Indien. Dort waren noch Mitte der 1980er Jahre über die Hälfte der Einwohner Analphabeten. Inzwischen verfügen mehr als zwei Drittel über gute Lese- und Schreibkompetenzen, was die UNESCO allein auf die intensiven Bemühungen der Regierung zurückführt. Die "National Literacy Mission" habe in vielen Bundesstaaten genau geprüft, wer vor allem von Analphabetismus betroffen ist und welche Zielgruppen angesprochen werden müssen. Daraus seien Maßnahmen entwickelt worden, die bedeutsame Fortschritte herbeigeführt hätten. Politischer Wille, so heißt es seitens der UNESCO, sei das A und O bei Alphabetisierungsbemühungen. [2]

Anmerkungen:

[1] Educational Gaps Limit Brazil‹s Reach (04.09.10)
New York Times

[2] Mit Lesen und Schreiben der Armut entkommen (08.09.10)
http://www.dw-world.de/dw/article/0,,5983991,00.html

8. September 2010