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SOZIALES/2094: Camerons Medizin soll "kaputte Gesellschaft" sedieren (SB)


"Big Society" - Staat wälzt Verantwortung für soziale Grausamkeiten ab


Daß eine Gesellschaft wie die britische, der das System kapitalistischer Verwertung nach außen und innen zur zweiten Natur geworden ist, in Krisenzeiten von Ausbrüchen exzessiver Gewalt heimgesucht wird, kann nicht verwundern. So extrem, beängstigend und verstörend die Unruhen anmuten mögen, sind sie doch eine wenngleich jede Kontrolle sprengende Erscheinungsform derselben Raubordnung, die Reichtum auf der Grundlage von Armut, Erfolg zu Lasten der Verlierer und Freßgier im Angesicht der Hungernden in den Rang der einzig legitimen Existenzweise erhebt. Die regierende Koalition aus Konservativen und Liberalen hat mit ihrem erbarmungslosen Sparpaket von mehr als 80 Milliarden Pfund den ärmeren Bevölkerungsschichten den sozialen Krieg erklärt, um Macht und Privilegien der herrschenden Klasse in ihrem Bestand zu sichern und in die Zukunft fortzuschreiben.

Wenn Premierminister David Cameron eine "kaputte Gesellschaft" beklagt, die auf Verantwortungslosigkeit und Egoismus gründe, verortet er diese Grundhaltung am allerwenigsten unter Seinesgleichen. "Ich bin in die Politik gegangen, um eine größere, stärkere Gesellschaft zu schaffen", heißt es in einer Rede, die er heute gehalten hat. Sein Entwurf der "Big Society", mit dem er die Wahl gewonnen und sein Amt angetreten hat, sieht keineswegs eine Verminderung sozialer Ungleichheit durch gezielte Entlastung und Förderung der schwächeren Teile der Gesellschaft vor. Ganz im Gegenteil verabschiedet sich der Staat mit diesem Konzept aus der Verantwortung und fordert die Bürger ultimativ auf, die Schuld an der Misere voll und ganz zu übernehmen und neben der ohnehin mühseligen Bewältigung ihres Alltags auch noch die Folgen der ihnen zugemuteten sozialen Grausamkeiten aus eigener Kraft im Sinne staatlicher Ordnung zu regulieren und einzufrieden.

"Wir wissen, was falsch gelaufen ist", behauptet Cameron. Über Generationen habe sich in "Zeitlupe" ein "moralischer Zusammenbruch" von Teilen des Landes ereignet. "Die sozialen Probleme, die sich seit Jahrzehnten entwickelt haben, sind vor unseren Augen explodiert", so der konservative Regierungschef. Nach den Ausschreitungen, die "ein Weckruf" für das Land gewesen seien, stelle sich nun die Frage, ob Großbritannien die "Entschlossenheit" aufbringe, sich der Herausforderung zu stellen. [1] Seine Regierung werde nicht nur mit schärferen Sicherheitsmaßnahmen reagieren: "Unser Kampf um Sicherheit muss von einem sozialen Kampf begleitet werden." Wenngleich er die politische Führung nicht von der Verantwortung für den "Zusammenbruch" freispricht, meint er dabei mitnichten die permanente Umverteilung von unten nach oben, denn von einer Rücknahme oder Abschwächung der Sparpolitik ist mit keinem Wort die Rede. Vielmehr wirft Cameron dem Staat und seinen Behörden vor, "einige der schlimmsten Seiten der menschlichen Natur" über Jahrzehnte toleriert, mit Nachsicht behandelt und begünstigt zu haben. Die Schul-, Sozial-, Familien- und Drogenpolitik der Regierung müsse überprüft werden. [2]

In einem repressiven Schub der Umsetzung britischer Sicherheitspolitik bediente sich die Polizei nach den Unruhen bei der Fahndung in großem Stil ihrer flächendeckenden optischen Überwachung. Sie führte Aufzeichnungen der allgegenwärtigen Kameras mittels mobiler Einheiten mit Großbildschirmen in den betreffenden Stadtteilen vor, um die Bürger zur Identifizierung von Plünderern und Unruhestiftern aufzufordern. Ohne diese aktive Mithilfe wären die Massenverhaftungen von bislang mehr als 2.800 Personen schlechterdings nicht möglich gewesen. Der nur zu verständliche Zorn vieler Bewohner dieser Viertel angesichts der wahllosen Zerstörung und akuten Gefährdung im Verlauf der Ausschreitungen wurde auf diese Weise in den Dienst polizeilicher Fahndung und juristischer Aburteilung in Schnellverfahren gestellt.

Die Einbindung der Bürger, von der Cameron spricht, gründet in diesem Zusammenhang auf Denunziation bis hin zur Selbstbezichtigung, die mit von den Medien kolportierten Debatten über die angeblich obskure Motivlage einzelner Plünderer öffentlich ausgebreitet wird. Im Kontext der vom Regierungschef angedrohten "Null-Toleranz-Politik" läuft diese Bürgerbeteiligung darauf hinaus, ein Heer freiwilliger Hilfspolizisten zu schaffen, die letzten Endes jede Form unerwünschten Verhaltens zur Meldung bringen und der Sanktion zuführen sollen. Das gestörte gesellschaftliche Zusammenleben in Großbritannien wird - so der Ansatz des Premierministers - nur dann repariert, wenn man das Umfeld potentieller Täter in die Pflicht nimmt.

Aus Sicht der Regierung sind nicht fehlende Arbeitsplätze, Ausbildungschancen und Zukunftsperspektiven - von einem selbstbestimmten Leben ganz zu schweigen - in ihrer Gesamtheit die Problemlage, sondern angebliche moralische und soziale Defizite der Jugend, deren Ansätze von Aufbegehren es unter Kontrolle zu bringen gilt. Wie die Abrechnung nach den Unruhen in London, Manchester, Birmingham, Liverpool und Bristol dokumentiert, werden selbst geringfügige Straftaten umgehend und hart bestraft. Darüber hinaus plant die Regierung, Anführer und Mitglieder von Jugendbanden massiv unter Druck zu setzen und künftig auch die Familien von Tätern bis hin zum Verlust der Sozialwohnung in Sippenhaft zu nehmen. Zu dieser offen repressiven Vorgehensweise soll sich eine Polizeiarbeit gesellen, welche die sozialen Strukturen der Bevölkerung stärker als bislang durchdringt und ihr die Teilhabe an der Durchsetzung staatlicher Ordnung näherbringt.

Warum David Cameron den früheren Polizeichef von New York und Los Angeles, Bill Bratton, am liebsten an die Spitze von Scotland Yard gesetzt hätte und trotz heftigen Gegenwinds seitens der Polizeiführung und sogar aus den Reihen seiner Koalition wenigstens als Berater engagieren will, liegt auf der Hand. Dem US-Amerikaner, der gegenwärtig eine Sicherheitsfirma leitet, eilt der Ruf voraus, eskalierende soziale Widersprüche mit einer reformierten Kultur polizeilichen Handelns deckeln zu können. Er rühmt sich, die Führung der Polizeibehörden von New York und Los Angeles inmitten von Korruptionsskandalen, Unruhen auf den Straßen, Streit mit Politikern und tiefsitzenden Vorbehalten der Bevölkerung als Außenseiter übernommen und die Verbrechensrate erheblich gesenkt zu haben. [3]

Das imponiert dem britischen Premier, der nur zu gern ein Patentrezept aus dem Hut zaubern möchte, das seine Probleme mit einem Streich zu lösen verspricht. Bratton, obzwar seinerzeit von Bürgermeister Rudolph Giuliani in New York seines Postens enthoben, verkündet unverdrossen, er könne im engen Rahmen eines Sparhaushalts nicht nur die Polizei reformieren, sondern diese zur führenden Kraft eines Wandels in der Gesellschaft machen: Niemand könne die Beziehung zwischen den Rassen, die Ängste der Bevölkerung und das soziale Klima schneller verändern als die Polizei, lautet sein Credo. [4]

Um das zu bewerkstelligen, setzt er einerseits auf rigoroses Durchgreifen gegen Straftaten aller Art nach dem sattsam bekannten Motto, daß die zerbrochene Glasscheibe von heute geradewegs zur Verbrecherlaufbahn von morgen führe, sofern man nicht frühzeitig einschreite. Zugleich müsse man jedoch die Bürgerrechte schützen, indem man die Polizeiarbeit transparent, für die Menschen präsent und human im Umgang mit Minderheiten gestalte. Wenn Kritiker zu bedenken geben, Bratton sei in erster Linie ein Verkäufer hochtrabender Ideen, während sich seine angeblichen Erfolge ganz anders darstellten, wenn man sie kritisch unter die Lupe nehme, kann das Cameron gleichgültig sein.

Die britische Regierung braucht dringend ein Pflaster, das den aufbrechenden Riß in der Gesellschaft kaschiert und zu heilen scheint. Da sie die Rettung des krisengeschüttelten Systems nur auf dem Rücken der drangsalierten Opfer bewerkstelligen kann, ist ihr jeder noch so kurzlebige Notnagel recht, den gesellschaftlichen Konsens zu retten und dem Aufbegehren die Spitze zu nehmen, ehe es sich formiert, organisiert und nicht mehr eindämmen läßt. Die Reparatur der "kaputten Gesellschaft" ordnungspolitisch an die Polizei zu delegieren, ohne damit noch heftigere Widerstände und eskalierende Unruhen zu schüren, wäre eine Medizin, deren betäubende Wirkung die Bevölkerung lange genug einschläfern könnte, bis die nächsthöhere Stufe staatlicher Zugriffsgewalt in Stellung gebracht ist.

Fußnoten:

[1] http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,780217,00.html

[2] http://www.abendblatt.de/politik/article1991638/Cameron-Die-sozialen-Probleme-sind-explodiert.html

[3] http://www.guardian.co.uk/uk/2011/aug/14/bill-bratton-police-track-record

[4] http://www.guardian.co.uk/uk/2011/aug/14/bill-bratton-police-crisis-cuts

15. August 2011