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SOZIALES/2098: Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger verschärft (SB)



Damals "asozial" und "arbeitsscheu" - heute "sozialwidrig"

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933 nahmen die Angriffe auf subproletarische Schichten in Deutschland dramatisch zu. Dabei griff der NS-Staat auf längst bestehende Gesetze und Institutionen zur Drangsalierung und Stigmatisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen zurück und verschärfte den Druck über Arbeitszwang bis hin zur Vernichtung in Konzentrationslagern. Mitte September 1933 wurden im Rahmen einer Großrazzia vermutlich über 100.000 Bettler erfaßt, von denen viele verhaftet und zunächst für eine kurze Frist in Strafanstalten überstellt wurden. Auch in den Arbeitshäusern, die im selben Jahr in Bezug auf den Arbeitszwang den Zuchthäusern gleichgestellt wurden, stieg die Anzahl der Insassen zu diesem Zeitpunkt sprunghaft an.

Die Einweisung ins Arbeitshaus sollte dazu dienen, "zur Arbeit anzuhalten und an ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben zu gewöhnen". Eingeliefert werden konnte, wer wegen "Bettelns, Landstreicherei, Gewerbsunzucht, Arbeitsscheuheit, Trunk- oder Spielsucht und Müßiggang" verurteilt wurde (sogenannte "Asoziale"). Die Unterbringung war bei erstmaliger Verurteilung auf maximal zwei Jahre befristet, bei erneuter Verurteilung auf bis zu vier Jahre. Ab Anfang 1934 ermöglichte eine Verschärfung die Inhaftierung auf unbestimmte Zeit. Ein bereits erfolgter Aufenthalt in einem Arbeitshaus konnte als Grundlage für die Einweisung in ein Konzentrationslager dienen.

Seit dem 14. September 1937 galt ein Erlaß des Reichsinnenministers Wilhelm Frick zur "Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung", der die Kriminalpolizei ermächtigte, Menschen mit der Begründung, es handle sich um "Asoziale", in Konzentrationslagern zu inhaftieren. Einen Höhepunkt der Verfolgung von "Asozialen" im Nationalsozialismus stellte die Aktion "Arbeitsscheu Reich" dar. Seit 1938 drängten die Wohlfahrtsämter die Polizeibehörden geradezu zur Verhaftung von Bettlern, Landstreichern, Straftätern, Sinti und Roma, Trinkern, Prostituierten und Heimzöglingen. Betroffen waren aber auch Väter, die mit Unterhaltszahlungen im Rückstand waren, und arbeitsfähige Männer, die nachweislich in zwei Fällen angebotene Arbeit abgelehnt oder ohne stichhaltigen Grund wieder aufgegeben hatten. Auf einen entsprechenden Erlaß vom 26. Januar 1938 folgten eine Aktion der Gestapo am 21. April und ein massenhafter Zugriff der Kriminalpolizei am 13. Juni 1938. Zehntausende "Asoziale" wurden in Konzentrationslager eingeliefert.

Waren bis dahin lokale Fürsorgebehörden federführend für die Verfolgung von "Asozialen" verantwortlich, so trat 1938 erstmals eine Reichsbehörde in Aktion, die Kommunen und Fürsorgeeinrichtungen die Möglichkeit eröffnete, mißliebige Klienten der Kriminalpolizei zur Einweisung in Konzentrationslager zu melden. Neben der Kostenersparnis war für viele Beamte insbesondere die abschreckende Wirkung auf Personen innerhalb ihres Verwaltungsbezirkes ausschlaggebend für die bereitwillige Mitarbeit. [1]

Sowenig man das Regime des NS-Staats direkt auf den geschredderten Sozialstaat der Bundesrepublik im Jahr 2016 übertragen kann, so unvermeidlich drängen sich doch einige düstere Assoziationen auf. Insbesondere der Arbeitszwang auch und gerade dann, wenn es über die konkrete Ausbeutung der Arbeitskraft hinaus um die ausnahmslose Verfügbarkeit des Menschen geht, scheint nichts von seiner Aktualität im Arsenal administrativer Repressionsinstrumente verloren zu haben. Auch der damaligen Bereitwilligkeit vieler Kommunen, Behörden und Fürsorgeeinrichtungen, aus Kostengründen und zur Abschreckung mißliebige Klientel zu denunzieren und buchstäblich zu entsorgen, mutet im Lichte ihres tendenziellen historischen Fortbestands bestürzend modern an. Wenngleich man natürlich einwenden mag, daß der Hartz-IV-Empfänger von heute nicht ins Lager kommt, geschweige denn der Vernichtung überantwortet wird, sind damit doch seine fortgesetzte Entwürdigung, die dramatisch eingeschränkten Existenzmöglichkeiten und die erheblich verkürzte Lebenserwartung armer Menschen nicht vom Tisch. Hieß es damals "asozial" und "arbeitsscheu" - wobei diese Bezichtigung den NS-Staat spielend überdauert hat -, ist in den jüngsten gesetzlichen Maßnahmen von "sozialwidrig" die Rede, wo es Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfänger zu bezichtigen und abzustrafen gilt.

Mit der Einführung der Hartz-Gesetze und der Agenda 2010 vor vierzehn Jahren erzwang die rot-grüne Bundesregierung die Kürzung von Sozialausgaben und den Aufbau eines riesigen Niedriglohnsektors. Dies legte den Grundstein zur öknomischen, politischen und zunehmend auch militärischen Vormachtstellung Deutschlands in Europa samt dem Anspruch, sich auch weltweit in vorderster Front in Szene zu setzen. Bezahlen müssen dafür unter anderem die Hartz-IV-Empfänger. Sie erhalten als Alleinstehende derzeit einen Satz von 404 Euro im Monat, der auch in Verbindung mit der Übernahme der Miet- und Heizkosten nicht für ein menschenwürdiges Leben reicht. Dennoch wird dieses Minimum durch Sanktionen und andere Einschränkungen immer weiter unterlaufen, um den Druck auf die Betroffenen zu erhöhen, Arbeit jeder Art zu niedrigen Löhnen und unsicheren Bedingungen anzunehmen, oder Menschen in Not davor abzuschrecken, ihnen zustehende Hilfe zu beanspruchen. Daß dieses Regime nicht selten absurder Anforderungen und Maßgaben oftmals jeden Bezug zur Realität fehlender Arbeitsplätze verloren zu haben scheint, hat System: Es geht letzten Endes um die Verfügung an sich, die sich in vielerlei Richtungen anwenden und ausbauen läßt.

Der Bundestag hat am 23. Juni eine Änderung des Sozialgesetzbuchs (SGB II) beschlossen, die in den Fachlichen Weisungen der Bundesagentur für Arbeit (BA) umgesetzt wird. Bislang konnten die laufenden Leistungen von Hartz-IV-Empfängern gekürzt werden, wenn sie nach Auffassung des Jobcenters nicht genügend kooperierten. Seit dem 1. August müssen sie bereits erhaltene Leistungen bis zu drei Jahren rückwirkend zurückzahlen, wenn sie ihre Bedürftigkeit durch "sozialwidriges Verhalten" selbst herbeigeführt haben. Dies wäre dann der Fall, wenn sie die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen "ohne wichtigen Grund" herbeigeführt haben oder durch ihr Verhalten dafür sorgen, daß "die Hilfebedürftigkeit erhöht, aufrechterhalten oder nicht verringert" wird. Wie man unschwer erkennen kann, läßt diese Neufassung alle Türen offen, willkürlich Sanktionen zu verhängen.

Wer bislang zu wenig Bewerbungen schrieb, Termine nicht einhielt oder andere Pflichten verletzte, dem drohte beim ersten Verstoß eine Kürzung der Leistungen um 30 und im Wiederholungsfall um 60 Prozent. Die Sanktion galt für einen Zeitraum von drei Monaten und wird auch weiterhin unverändert angewendet. Hartz-IV-Empfänger können fortan doppelt bestraft werden, nämlich wie bisher nach § 31 und zusätzlich mit Rückforderungen nach § 34 SGB II.

Die BA führt in ihrer Weisung an die Jobcenter als Beispiele sanktionswürdigen Verhaltens Berufskraftfahrer an, die den Führerschein wegen Alkohol am Steuer verlieren und deshalb auf Hartz IV angewiesen sind, wie auch Hartz-IV-Empfänger, die angebotene Jobs ablehnen und deshalb weiter von Hartz IV abhängig bleiben. Treffen könnte die Sanktion aber auch Menschen in diversen anderen Lebenslagen wie etwa alleinerziehende Mütter, die sich weigern, den Namen der Väter ihrer Kinder zu nennen, oder Frauen, die ihren gewalttätigen Ehemann verlassen und deshalb auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen sind. Auch wer seinen Job wegen einer Weiterbildung oder als Aufstocker freiwillig aufgegeben hat, muß eine Rückforderung der Gelder einschließlich gezahlter Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge, ja selbst des Werts von Essensgutscheinen befürchten.

Konnten bislang bereits ausgezahlte Hartz-IV-Leistungen allenfalls dann zurückgefordert werden, wenn der Leistungsempfänger seine Hilfsbedürftigkeit vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt hatte, ist dies nun aufgrund eines "sozialwidrigen Verhaltens" auch während des Hartz-IV-Bezugs möglich. Da Hartz-IV-Empfänger über keinerlei Vermögen oder Ersparnisse verfügen dürfen, können sie die Rückforderung in aller Regel nicht bezahlen. Daher können die Jobcenter die Rückforderung für einen Zeitraum von bis zu drei Jahren mit 30 Prozent auf den Regelbedarf anrechnen, so daß die Sanktionen entsprechend lange dauern. Und sollte der Betroffene unterdessen sterben, kann das Jobcenter offene Forderungen von den Erben eintreiben. [2]


Fußnoten:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/pannwitz/report/pprb0012.html

[2] https://www.wsws.org/de/articles/2016/09/06/hart-s06.html

6. September 2016


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