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SOZIALES/2099: Bundesrepublikanische Wohlstandswirklichkeit - starker Anstieg der Wohnungslosigkeit (SB)


Mehr Verantwortung nach außen, weniger Verantwortung nach innen


Im reichen Deutschland haben immer mehr Menschen kein eigenes Dach über dem Kopf und müssen auf der Straße oder in Notunterkünften leben. Innerhalb von fünf Jahren ist ihre Zahl von 248.000 (2010) um 35 Prozent auf 335.000 (2015) gestiegen. Das sind mehr Menschen, als die Stadt Bielefeld Einwohner hat.

In einem Schreiben der Regierung heißt es, daß Wohnungslosigkeit "vielfach nicht in fehlendem Wohnraum begründet" liegt, sondern "in der Regel eine Reihe anderer sozialer und zum Teil auch psycho-sozialer Ursachen" hat. [1] Sinngemäß erklärt die Bundesregierung damit, daß die Verantwortung für diese Entwicklung keineswegs der Staat übernehmen muß, sondern daß die Wohnungslosen an ihrem Schicksal selber schuld sind, zumal manche von ihnen psychisch beeinträchtigt seien.

Die Regierung weigert sich seit Jahren, eine eigene Statistik zur Wohnungslosigkeit in Deutschland zu führen. Offenbar aus diesem Grund war die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag, Sabine Zimmermann, darauf angewiesen, eine entsprechende Erkundigung bei der Regierung einzuholen. Zimmermann kritisierte die offiziellen Erklärungsbemühungen zur Wohnungslosigkeit, attestierte der Bundesregierung, daß sie die Augen vor der Realität verschließt, wenn sie den Wohnungsmangel nicht erkenne, und verwies statt dessen auf die steigende Einkommensarmut breiter Bevölkerungsschichten. Der Wohnungslosigkeit müsse der Kampf angesagt werden, forderte sie.

Es ist sicherlich verdienstvoll von der Linken-Politikerin, eine so unbequeme Anfrage gestellt zu haben, allerdings kann man ihrer Einschätzung nicht in jeder Hinsicht folgen. Die Bundesregierung schließt weniger die Augen vor der Lebensrealität von Hunderttausenden Menschen, sondern nimmt diese sehenden Auges in Kauf. Es handelt sich um Wohnungslosigkeit mit Ansage.

Die Entwicklung nahm vor elf Jahren mit der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe ihren Anfang. Zeitgleich wurden der Dienstleistungssektor ausgebaut und Menschen in Billigjobs gedrängt, von denen sie gleich mehrere annehmen mußten, um über die Runden zu kommen. In dieser Zeit erlebten auch die Tafeln, jene privat organisierte Lebensmittelverteilung, durch die inzwischen Woche für Woche über 1,5 Millionen Menschen versorgt werden, da sich der Staat aus der Verantwortung gestohlen hat, einen starken Zuwachs. Außerdem hatte der Staat sehenden Auges hingenommen, daß die Mieten vor allem in urbanen Zentren rasant gestiegen waren, der Soziale Wohnungsbau dauerhaft darbte und die Kappungsgrenzen ein vom Vermieter locker ausmanövriertes Hindernis bei der Mieterhöhung bildeten.

Die Verarmung eines breiten Sockels an Geringverdienenden durch Lohndrückerei und die grassierende Wohnungsnot sind in Kauf genommene Begleiterscheinungen, um der deutschen Wirtschaft Standortvorteile innerhalb der Nationenkonkurrenz zu verschaffen und diese laufend weiter auszubauen. Der bereits von satten Profiten gekrönte Vorgang ist noch nicht abgeschlossen, wird aber als Vorwand zur Verfolgung größerer Ziele genutzt: Auf dem Weg zu einem zentraleuropäischen Imperium deutscher Nation (Ex-Bundesaußenminister Joseph Fischer fabulierte von Deutschland als "Gravitationszentrum" der EU) wollen die deutschen Eliten aus Administration und Wirtschaft ihren politischen Einfluß innerhalb der EU und darüber hinaus ausbauen und diesen bei Widerstand auch militärisch durchsetzen.

Das nennt sich dann "mehr Verantwortung" in der Welt übernehmen und bildet das Pendant zur Ablehnung der sozialen Verantwortung gegenüber der eigenen Bevölkerung. Administrative Verantwortungslosigkeit wäre hierzu die passende Formulierung. Was die Linken-Politikerin Zimmermann als "Augen verschließen vor der Realität" bezeichnet, erweist sich als Ausdruck einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung, die schon älter ist, bei dem die Eliten das Zepter in der Hand halten und die Initiative übernommen haben. Zu diesem Klassenkampf von oben bildet der gegenwärtige Rutsch nach Rechts im politischen Spektrum einer Reihe europäischer Staaten nicht etwa den Konter, sondern dessen Fortsetzung.

Möglicherweise wird man es rechten Kräften überlassen, dafür zu sorgen, daß eines wohl nicht mehr fernen Tages die Arbeitsleistung der vielen Wohnungslosen einer gesellschaftlich profitablen Verwertung zugeführt wird, und weil es dafür erforderlich ist, wird man dann auch eine Statistik zur Wohnungslosigkeit führen. Das war zwar von seiten der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Wohnungslosenhilfe, die den Mangel seit Jahren kritisiert, nicht so beabsichtigt, liegt aber in der Logik administrativen Ordnungsstrebens. Außerdem müßte man seitens der Behörden dann den Aufenthaltsort der Wohnungslosen wissen, wozu eine gemeinschaftliche Unterbringung der Betroffenen hilfreich wäre.

Die BAG rechnet mit einem Zuwachs auf 536.000 wohnungslose Menschen bis zum Jahr 2018. Da dieses wachsende Heer einen potentiellen Unsicherheitsfaktor darstellt, den sich die übrige Gesellschaft nicht leisten will, ist damit zu rechnen, daß die Regierung, unter welchen Farben sie in Zukunft auch immer antreten wird, nicht der Wohnungslosigkeit den Kampf ansagt, sondern den Wohnungslosen. Es könnte ja ein moderner Spartakus die Arena des Klassenkampfs betreten und all die vielen Menschen, die kein eigenes Dach über dem Kopf und womöglich viel weniger zu verlieren haben als die Besitzstandsbürger, um sich sammeln.


Fußnote:

[1] http://www.deutschlandfunk.de/sozialstatistik-immer-mehr-obdachlose-in-deutschland.1818.de.html?dram:article_id=373118

5. Dezember 2016


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