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USA/1294: Dick Cheney sorgt mit seinen Memoiren für Kontroverse (SB)


Dick Cheney sorgt mit seinen Memoiren für Kontroverse

Lawrence Wilkerson bezichtigt Cheney des Kriegsverbrechens



Durch die Veröffentlichung seiner 565seitigen Memoiren "In My Time" und die begleitenden Auftritte dazu im US-Fernsehen hat sich Dick Cheney eindrucksvoll wieder zu Wort gemeldet. In den vergangenen Tagen haben die Medien genüßlich die scharfzüngigen Seitenhiebe des ehemaligen US-Vizepräsidenten gegen seine früheren Kollegen im Kabinett von George W. Bush ausgeweidet. Während der Hardliner den früheren britischen Premierminister Tony Blair als "treuen Verbündeten" lobt und seinen alten Kumpel Donald Rumsfeld aus der Schußlinie hält, wirft er vor allem General a. D. Colin Powell, der während der ersten Amtszeit von Bush jun. diesem als Außenminister diente, und Condoleezza Rice, die von 2001 bis 2005 Nationale Sicherheitsberaterin war und von 2006 bis 2010 Powell im State Department ersetzt hat, vor, den Präsidenten von einem energischeren Vorgehen gegen die Feinde Amerikas abgehalten und damit den Interessen der USA geschadet zu haben. Wenn es nach dem Willen Cheneys gegangen wäre, so hätten die US-Streitkräfte nach den Einmärschen 2001 in Afghanistan und 2003 in den Irak eventuell auch Nordkorea, Syrien und den Iran angegriffen, um der sogenannten "Achse des Bösen" ein für allemal den Garaus zu machen.

Mit seiner Sprücheklopferei will Cheney nicht nur den Unilateralismus der Bush-Regierung rechtfertigen, sondern auch denjenigen in den USA wie den republikanischen Präsidentschaftskandidaten Rick Perry und Michelle Bachman den Rücken stärken, die sich offen zur unbedingten Beibehaltung der militärischen Führungsposition Amerikas in der Welt bekennen. Doch die Unverfrorenheit, mit der der 70jährige, ehemalige Stabschef Richard Nixons den Irakkrieg, die Folter von mutmaßlichen Mitgliedern des Al-Kaida-"Netzwerkes" von Osama Bin Laden und vieles andere mehr verteidigt, hat auch seine Kritiker auf den Plan gerufen. Bei einer am 30. August ausgestrahlten Diskussionsrunde in der US-Radiosendung Democracy Now! mit der linksliberalen Moderatorin Amy Goodman hat der New Yorker Staatsrechtler Glenn Greenwald, dessen vielgelesener Blog Unclaimed Territory bei der Onlinezeitung Salon.com erscheint, kritisiert, daß die US-Fernsehanstalten den früheren republikanischen Kongreßabgeordneten aus Wyoming einfach wie einen "älteren Staatsmann" behandelten:

Die Beweislage ist erdrückend ..., daß Cheney nicht nur eine politische Figur mit umstrittenen Ansichten, sondern in der Tat ein Verbrecher ist, daß er nicht nur zutiefst in Kriegsverbrechen im Irak, sondern auch in Verstöße gegen nationale Gesetze verwickelt gewesen ist, daß er sowohl für die Autorisierung von Lauschangriffen gegen US-Bürger ohne richterliche Genehmigung und damit für die Mißachtung des FISA-Gesetzes, das pro Verstoß eine Haftstrafe von fünf Jahren vorschreibt, als auch für die Implementierung eines weltweiten Folterregimes verantwortlich war, das nach Angaben von General Barry McCaffrey zum Tod - seinen Worten nach - Dutzender von Gefangenen führte und sich nicht nur auf die paar Fälle von Waterboarding, über die Moderatoren ihn im Fernsehen befragten, erstreckte.

In derselben Sendung hat Lawrence Wilkerson, seinerzeit Stabschef Powells im Außenministerium, das Handeln Cheneys als Bushs Vizepräsident nicht nur scharf kritisiert, sondern sich auch bereit erklärt, gegen diesen bei einem Kriegsverbrecherprozeß auszusagen, auch wenn er sich selbst dabei belasten sollte. Gerade im Zusammenhang mit dem Irakkrieg hat Wilkerson brisante Details der Medienmanipulationen preisgegeben, welche im Vorfeld des Einmarsches vom Weißen Haus, Pentagon, CIA und Außenministerium betrieben wurden, um die vom "Regime" Saddam Husseins ausgehende Bedrohung aufzubauschen und dessen Beseitigung erforderlich erscheinen zu lassen.

Nach Angaben von Wilkerson waren die geheimdienstlichen Erkenntnisse über die Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins und die vermeintlichen Verbindungen zwischen dem irakischen Geheimdienst und Al Kaida dermaßen dürftig, daß Powell weite Teile seines bevorstehenden Vortrags vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am 5. Februar 2003 streichen wollte. Kaum hatte er diesen Entschluß gefaßt, da meldete sich "innerhalb einer Stunde" - so Wilkerson - der damalige CIA-Chef George Tenet mit der Nachricht, ein in Ägypten gefangenes, ranghohes Al-Kaida-Mitglied hätte im Verhör zugegeben, daß der irakische Geheimdienst zwei Kampfgefährten Bin Ladens in den Bau von biologischen und chemischen Waffen unterwiesen hätte. Aufgrund dieser Neuigkeiten sprach Powell nur eine Woche später in New York vor den Augen der Weltöffentlichkeit von einem "finsteren Nexus" zwischen dem "Schurkenstaat" Irak und dem global agierenden "Terrornetzwerk" Al Kaida, der eine inakzeptable Bedrohung für den Nahen Osten, die USA und die gesamte Welt darstelle.

Bei dem besagten Al-Kaida-Mitglied handelt es sich um Ibn Al Scheich Al Libi, der von 1995 bis 2000 ein "terroristisches" Ausbildungslager im ostafghanischen Khaldan geleitet haben soll und im Dezember 2001, wenige Wochen nach Beginn des Anti-Taliban-Feldzuges der Amerikaner und ihrer Verbündeten in Afghanistan, in Pakistan verhaftet wurde. Nach Zwischenaufenthalten in einem amerikanischen Kriegsgefangenenlager im afghanischen Kandahar und auf dem US-Kriegsschiff Bataan im Arabischen Meer wurde Al Libi Anfang 2002 im Rahmen des "Extraordinary rendition"-Programms der CIA nach Ägypten transportiert und dort brutalst gefoltert.

Was die folgenschwere Aussage über eine Zusammenarbeit zwischen Bagdad und Al Kaida in Sachen Massenvernichtungswaffen betrifft, so hat Al Libi diese laut CIA-Dokumenten 2004 zurückgenommen. In einem Bericht des Geheimdienstauschusses des US-Senats von 2006 räumte man ein, der schwer gepeinigte Libyer habe sich die damalige Geschichte nur ausgedacht, um weiteren Mißhandlungen und der angedrohten Ermordung zu entgehen. In diesem Zusammenhang gibt es Hinweise, wonach die Anweisung an die ägyptischen Folterschergen, von Al Libi das zur Legitimierung des bevorstehenden Irakkriegs benötigte Geständnis herauszupressen, direkt vom Amt des damaligen US-Vizepräsidenten Dick Cheney kam. Zu diesem Schluß ist zum Beispiel der ehemalige CIA-Analytiker und heutige Friedensaktivist Ray McGovern in einem Artikel, der am 18. Mai 2009 bei www.consortiumnews.com erschienen ist, gekommen.

Der Anlaß McGoverns zu seiner ausführlichen Behandlung dieses Themas war damals die Nachricht vom plötzlichen Tod Al Libis im Abu-Salim-Gefängnis in der libyschen Hauptstadt Tripolis, nur wenige Tage nachdem Ende April 2009 Mitarbeiter von Human Rights Watch ihn bei einem Kontrollbesuch dort zufällig entdeckt hatten. Nach Angaben der libyschen Behörden hat sich Al Libi, den die US-Behörden 2006 an sein Heimatland ausgeliefert hatten, das Leben genommen. Doch der plötzliche Tod des vielleicht wichtigsten Belastungszeugen in Hinblick auf die vorgetäuschte Begründung für den Irakkrieg wenige Tage nach seiner überraschenden Entdeckung durch westliche Menschenrechtsaktivisten läßt den Verdacht zu, daß Muammar Gaddhafi seinen neuen Freunden in Washington durch die Beseitigung einer Gefahrenquelle einen großen Gefallen tun wollte. Sollte das der Fall gewesen sein, dann wäre der Verzicht auf ein solch wichtiges Faustpfand für den libyschen Revolutionsführer, der sich dieser Tage im eigenen Land vor den Bomben und Raketen der NATO auf der Flucht befindet, ein noch größerer Fehler gewesen als die Stilllegung seines Atomwaffenprogramms, um sich mit dem Westen auszusöhnen.

1. September 2011