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USA/1422: Washington - Anti-Corona-Maßnahmen gemahnen an alten Staatenzwist ... (SB)


Washington - Anti-Corona-Maßnahmen gemahnen an alten Staatenzwist ...


In den USA zeitigt die Covid-19-Epidemie verheerende Folgen: Hunderttausende Erkrankte, mehrere zehntausend Tote und eine gelähmte Volkswirtschaft mit Millionen von Arbeitslosen und unzähligen Betrieben vor dem Aus aufgrund der verschiedenen Regeln der sozialen Distanzierung, die zur Reduzierung der Seuchengefahr verhängt worden sind. Der hervorstechende Unterschied zwischen den USA und praktisch allen anderen Ländern im Umgang mit dem Corona-Virus ist die fehlende Einigung der politischen Klasse. Statt an einem Strang zu ziehen, wie es die Eliten in Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien, Südkorea oder China tun oder zumindest dem Anschein nach praktizieren, führen die politisch Verantwortlichen in den USA einen völlig kontraproduktiven, für einen Industriestaat mit Führungsambitionen überaus peinlichen Dauerstreit um Testkits, Atemgeräte, Gesichtsmasken und den richtigen Zeitpunkt der Einführung oder Aufhebung von Regeln der sozialen Distanzierung.

Für diesen Streit ist Donald Trump verantwortlich. Weil der New Yorker Immobilienmagnat wegen seiner eigenen katastrophalen Versäumnisse zu Beginn der Corona-Krise um die Wiederwahl fürchten muß, versucht er nun, alle negativen Auswirkungen für das Land auf die Gouverneure der einzelnen Bundesstaaten zu schieben. Dabei spielt er offen mit dem Risiko, die USA erneut in den Bürgerkrieg zu stürzen. Es steht so schlecht um das Verhältnis zwischen dem Weißem Haus und den Gouverneuren der Bundesstaaten wie seit 1957 nicht mehr, als Dwight D. Eisenhower bewaffnete Soldaten des Bundesheeres nach Little Rock, Arkansas, schicken mußte, um dort gegen den Willen des rassistischen Teils der weißen Bevölkerung mehreren schwarzen Jugendlichen den Zugang zur staatlichen Sekundarschule zu verschaffen. Manche Beobachter befürchten, Trump könnte die Pandemie nutzen, um die Wahlen ganz abzublasen und sich mittels einer Notstandsermächtigung ähnlich der Viktor Orbáns in Ungarn zum Diktator aufzuschwingen. Dieses Szenario sollte nicht von vornherein als unmöglich abgetan werden, denn die reaktionären Kräfte, die Trump vor vier Jahren ins Weiße Haus gespült haben, sind gefährlich und zu allem fähig.

Angestachelt durch die ständige Behauptung des Präsidenten, Amerika müsse schleunigst wieder "geöffnet" werden, damit seine Werktätigen zur Arbeit gehen, sind in den letzten Tagen Trumps "Hurra-Patrioten" aus ihren Höhlen gekrochen und haben für Furore gesorgt. In den Hauptstädten zahlreicher Bundesstaaten haben sie fahneschwenkend, Baseballmützen mit dem Trump-Slogan "Make America Great Again" tragend und zum Teil schwer bewaffnet vor dem jeweiligen Regierungssitz protestiert, demonstrativ die Abstandsregeln nicht eingehalten und lautstark die Rückkehr zur "Normalität" eingefordert. Als ein Arzt oder Sanitäter in seiner grünen Krankenhauskleidung auf einer Kreuzung in Colorado einen ihrer Autokonvois blockierte, brüllte ihn eine Trump-Anhängerin an: "Dies ist ein freies Land. Das Land der Freien. Geh nach China, wenn du den Kommunismus willst! Geh nach China!"

Trump nahm die Demonstranten nicht nur in Schutz, indem er erklärte, sie seien "gute Menschen", die wegen des allgemeinen Lockdowns unter "Lagerkoller" litten, sondern heizte die Stimmung im Land mit drei spektakulären Tweets zusätzlich an: "BEFREIT MICHIGAN", "BEFREIT MINNESOTA" sowie "BEFREIT VIRGINIA und rettet euren zweiten Zusatz" - letzteres ein Hinweis auf Bestrebungen der Regierung in Virginia, das Waffenrecht einzuschränken. Auffällig war, daß die erwähnten Bundesstaaten alle von politischen Gegnern, den Demokraten, regiert werden. Zudem ist insbesondere Michigan als einer der wenigen Swing States für einen möglichen Wahlsieg Trumps in November von enormer Bedeutung. Trump wäre auch nicht Trump, hätte er nicht gemäß seiner Macho-Sicht auf die Welt besonders auf der Gouverneurin von Michigan, Gretchen Whitner herumgehackt, nur weil sie eine Frau ist. In den Tagen zuvor hatte der ehemalige Reality-Fernsehstar Whitmer als eine "sozialistische", aber gleichzeitig unfähige "Feminazi" zu diskreditieren versucht. Dabei gehört Michigan mit dem Großraum Detroit neben New York und New Jersey zu den Bundesstaaten mit den meisten Covid-19-Opfern.

Die schärfste Erwiderung auf Trumps Provokationen kam von Jay Inslee, der als demokratischer Gouverneur von Washington den ersten Ausbruch des Corona-Virus in Nordamerika durch rasches und konsequentes Handeln einigermaßen in den Griff bekommen hat. Inslee erklärte, mit seinen hetzerischen Tweets ermuntere der Präsident "zu illegalen und gefährlichen Handlungen" und setze damit "Millionen von Menschen der Gefahr der Ansteckung durch Covid-19" aus. Mit Hinweis auf die Pressekonferenz, die Trump inzwischen täglich zur Pandemie abhält und dabei Halbgares und Gelogenes in einer Tour von sich gibt, gab sich Inslee höchst besorgt: "Seine verstörenden Tiraden und seine Aufrufe an die Leute, die Bundesstaaten zu 'befreien', könnten auch zu Gewalt führen. Es ist alles schon dagewesen."

Die Androhung bürgerkriegsähnlicher Zustände erfolgt bei Trump wohlüberlegt. Seine Anhängerschaft stellt zwar eine kleine Minderheit der US-Bevölkerung dar, doch ist sie teilweise in Durchsetzung ihrer Interessen zu allem bereit. Dabei merken die meisten johlenden Verfechter der These von "Freiheit oder Tod" nicht, daß sie von mächtigen Kräften gesteuert werden. Die Personen und Gruppen, welche die Demonstrationswelle gegen die Einschränkungen des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens in den USA in Gang gesetzt haben, gehören dem rechtsradikalen Lager an, in dem mächtige Börsenjongleure wie Robert Mercer und gestandene Logenbrüder des Klu Klux Klans den Ton angeben. Der Michigan Freedom Fund, der aktuell gegen Gouverneurin Whitmer zu Felde zieht, wird unter anderem von der Familie von Trumps Erziehungsministerin Betty DeVos mitfinanziert, deren Bruder der Blackwater-Firmengründer Erik Prince ist. Einer der Gründer der chauvinistischen Interessensvereinigung ReOpen America ist Stephen Moore. Trump hat vor kurzem den ehemaligen Teilnehmer der libertären Tea-Party-Unterabteilung FreedomWorks zum Mitglied jener Beratergruppe ernannt, welche das Weiße Haus in Sachen Wiederhochfahren der Wirtschaft beraten soll. Alles dient der Fortsetzung des rechten Projekts einer Verwandlung der USA in einen autoritären Staat mit Führerkult. Die Verfechter des neodarwinistischen Projekts schrecken vor der Möglichkeit eines Bürgerkriegs deshalb nicht zurück, weil sie ihn als einen notfalls vertretbaren Preis längst einkalkuliert haben.

23. April 2020


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