Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REPORT

BERICHT/056: Eurokrake Sicherheit - Risse in der Festung Europa (SB)


Podiumsdiskussion zu Strategien grenzüberschreitenden Widerstands

auf dem entsichern-Kongreß in Berlin am 29. Januar 2011

Adeline Otto, Moderatorin, Detlef Hartmann - © 2011 by Schattenblick

Adeline Otto, Moderatorin, Detlef Hartmann
© 2011 by Schattenblick

Nach dem Vertrag von Lissabon hat die Europäische Union einen beträchtlichen Zuwachs an Kompetenzen erfahren. Die zunehmende Kontrolle und Sanktionierung wird gerade im Bereich polizeilicher und justizieller Zusammenarbeit und ihren Agenturen Frontex, Europol oder Eurojust, aber auch der Reglementierung des Internet deutlich. Demgegenüber existieren nur wenige grenzüberschreitende Bündnisse und Strukturen, die sich der fortschreitenden Militarisierung sozialer Konflikte in den Weg stellen. Eine radikale Ablehnung des Projekts EU muß sich zu schwierigen Fragen positionieren: Wie läßt sich Kritik artikulieren, ohne nationalistische Ambitionen zu schüren? Wie steht man zur populären Forderung nach einer "anderen", demokratischeren EU, wie sie von liberalen Strömungen vorgetragen wird? Wie kann man sich grenzüberschreitend verbünden, ohne den Bezug zu widerständiger Praxis zu verlieren? Warum ist die Bewegung gegen die entufernde Überwachung und Kontrolle der EU derart unterentwickelt? Wo bleibt die radikale Linke, die sich ansonsten gern in fundamentaler Staatskritik übt?

Angesichts der fortschreitenden Machtfülle der EU gilt es, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen und sie weiterzuentwickeln. Dabei könnten entschieden linke Strukturen auf ihre langjährigen Erfahrungen in grenzüberschreitender Organisierung und Mobilisierung zurückgreifen. So werden zur Kritik der EU-Migrationspolitik seit Jahrzehnten europaweit No Border-Camps organisiert. Auch rund um Gipfelproteste gegen G8, G20, WTO, NATO und EU sind Bündnisse und Freundschaften entstanden, die reaktiviert und ausgebaut werden können.

Vor einem mehrheitlich jungen Publikum von 150 bis 200 Personen, die sehr aufmerksam zuhörten, ging es in der Podiumsdiskussion darum, verschiedene Perspektiven grenzüberschreitender Bewegungen zu analysieren. Nach einer Bestandsaufnahme von erfolglosen und vielversprechenden Strategien gegen die EU sollte ausgelotet werden, auf welche Weise der radikale Dissens praktisch umgesetzt werden kann. Das Plenum der Konferenzteilnehmer diskutierte zum Abschluß des ersten Tages mit Kriss Scholl, Adeline Otto, Detlef Hartmann und René Paulokat. Dabei hatten die Organisatoren hinsichtlich der Podiumsteilnehmer eine gute Wahl getroffen, repräsentierten diese doch wesentliche Positionen des für die Fragestellung relevanten Spektrums. Zugleich gewährleistete die Zusammenstellung eine kontroverse Diskussion an zentralen Bruchlinien und Widersprüchen, mit denen sich die Bewegung unvermeidlich konfrontieren muß.

Kriss Scholl lebt in den Niederlanden und ist seit Jahren in der Bewegung gegen internationale Gipfeltreffen besagter Institutionen aktiv. In seiner Dissertation analysiert und systematisiert er diese praktischen Erfahrungen.

Adeline Otto hat Geschichte, Politik und Recht mit Schwerpunkt Frankreich an der FU Berlin studiert. Sie ist Mitglied im Netzwerk Grundeinkommen, bei der attac AG "Genug für Alle" und engagiert sich seit 2007 im SprecherInnenkreis der LAG Grundeinkommen Berlin in und bei der Partei Die Linke. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin einer Europaabgeordneten der Partei Die Linke war sie in Brüssel tätig und kennt daher den parlamentarischen Apparat der EU aus eigener Erfahrung.

Detlef Hartmann, sozialrevolutionärer Theoretiker und in Köln lebender Rechtsanwalt, hat an den Zeitschriftenprojekten "Autonomie. Neue Folge" und "Materialien für einen neuen Antiimperialismus", zu dessen Redaktionskollektiv er gehört, mitgearbeitet. Er publiziert nicht nur zu grundlegenden Fragen der Linken, sondern engagiert sich unter anderem auch in "Bundeswehr wegtreten" und "Zahltag". Da er 1968 durch Polizeiknüppel im "people's park" in Berkeley bei San Francisco politisiert wurde, kann er die aktuellen Debatten und Kontroversen der Linken aus dem Erfahrungsschatz jahrzehntelangen Engagements kontrastieren und befruchten.

René Paulokat ist beim nichtkommerziellen Berliner Internetanbieter so36.net aktiv, der Infrastruktur und technische Dienste für politische Gruppen und Einzelpersonen zur Verfügung stellt. Seit geraumer Zeit steht der Provider im Visier der Ermittlungsbehörden, weil er sich für freie und sichere Kommunikation im Internet einsetzt. Im Mai 2007 wurde so36.net Opfer der § 129a-Verfahren vor dem G8-Gipfel in Heiligendamm. Das BKA durchsuchte nicht nur die Vereinsräume, sondern auch die Privatwohnung Paulokats, der dem Vorstand angehört. Man bediente sich des Vorwands, nicht zu wissen, wo die Server des Internetanbieters stehen. Beide Maßnahmen stellten sich im Nachhinein als rechtswidrig heraus. Im April 2010 wurde so36.net erneut durchsucht, um Verantwortliche für eine antimilitaristische Webseite zu ermitteln. Dabei wurden mehrere Server beschlagnahmt und die Privatwohnung einer Person durchsucht. Kurze Zeit später stufte die Staatsanwaltschaft den Beschluß zur Beschlagnahme der Server als unverhältnismäßig ein und nahm ihn wieder zurück.

Moderatorin, Detlef Hartmann, René Paulokat - © 2011 by Schattenblick

Moderatorin, Detlef Hartmann, René Paulokat
© 2011 by Schattenblick

In einer ersten Gesprächsrunde hatten die vier eingeladenen Podiumsteilnehmer Gelegenheit, die Schwerpunkte ihrer Arbeit und die Stoßrichtung ihrer Positionen in Hinblick auf das Thema der Diskussion vorzustellen. Dabei kristallisierten sich Gemeinsamkeiten und divergierende Auffassungen heraus, die anschließend in einer zweiten Runde aufgegriffen und vertieft wurden. Dem folgte im dritten Abschnitt eine Publikumsdiskussion, in deren Rahmen Fragen gestellt und Auffassungen geäußert wurden, die sich auf die angesprochenen Problemstellungen bezogen, aber auch ergänzend und weiterführend darüber hinausgingen. Dank einer ebenso zugewandten wie beweglichen Moderation, welche die Diskussion mit Fragen anregte und Zusammenfassungen bündelte, brach sich ein engagierter Gesprächsfluß bahn, der sich von den bekannten Untiefen und Wirbeln einer Debatte in großer Runde weder stauen noch in Seitenarme ablenken ließ.

Kriss Scholl, an den die Moderatorin zuerst das Wort weitergab, leitet seine Position von der Partizipation an der Bewegung gegen Gipfel ab. Seine Erfahrungen als langjähriger Aktivist und deren Verdichtung zu einer Dissertation erlauben es ihm, Höhepunkte der Bewegung wie die Chaostage bei der Tagung des EU-Gipfels 1997 in Amsterdam mit dem späteren Niedergang der Gegenbewegung zu kontrastieren. Gingen damals Zehntausende gegen das europäische Projekt auf die Straße und gaben Anstoß für weitere Proteste, als die EU in anderen Ländern tagte, so verschwand die Bewegung nach der letzten großen Mobilisierung gegen den EU-Gipfel 2001 in Brüssel weitgehend aus der Öffentlichkeit. Die inspirierende Phase fand keine Fortsetzung, während sich umgekehrt seit dem G8-Gipfel in Genua die Kontrolle durch den staatlichen Sicherheitsapparat qualifizierte.

Damit war eine fundamentale Problemstellung der Bewegung gegen die Gipfel wie auch der Linken insgesamt angesprochen. Wo Mobilisierung greift und sich Widerstand artikuliert, tritt die von überlegenen Machtmitteln und Ressourcen gestützte Lernfähigkeit staatlicher und überstaatlicher Kräfte des Sicherheitsapparats auf den Plan. Dabei geht die reaktive Eindämmung aktueller Aktionsformen zunehmend in eine präemptive Vorgriffsstrategie über, die künftiges Engagement auf dem Vorweg zu erschweren oder zu verhindern sucht.

Wie Kriss Scholl hervorhebt, sei für die Bewegung von unten eine Vernetzung essentiell, doch müßten bei der Globalisierungskritik und der Kritik der EU neue Formen gefunden werden. Ausgehend von seinen persönlichen Erfahrungen in den letzten zehn Jahren nennt er in diesem Zusammenhang drei Lernmomente: Zum ersten mache diese Politik nur Sinn, wenn sie internationalistisch angelegt ist. Der Europäisierung von oben müsse eine grenzüberschreitende Bewegung entgegengesetzt werden. Zum zweiten lehre die Erfahrung, daß die anfänglichen Erfolge der Netzwerke später nicht mehr im zuvor erreichten Umfang wiederholt werden konnten. Daher sei es erforderlich, schneller zu agieren und den Schritt nach vorn auf die Agenda zu setzen. Zum dritten reiche der Gipfelprotest allein nicht aus, da die Protestformen präemptiv kontrolliert werden. Was aber wäre eine proaktive Form? Daß Kriss Scholl offen einräumt, diese so wesentliche Frage nicht beantworten zu können, sollte der Debatte keinen Abbruch tun. Lösungen aus der Tasche zu ziehen adelt kritische Geister nicht, die am Gefüge festgenagelter Antworten rütteln.

Adeline Otto - © 2011 by Schattenblick

Adeline Otto
© 2011 by Schattenblick

In deutlichem Kontrast zu Kriss Scholl verweist Adeline Otto auf ihren anders gelagerten Erfahrungshintergrund, da sie sich in verschiedenen Institutionen bewegt. Sie war im Europäischen Parlament in Brüssel angestellt, arbeitet nun für eine NGO und engagiert sich in der Partei Die Linke. Damit tritt sie für ein Zusammenspiel von parlamentarischer Präsenz und sozialer Bewegung ein, die ihres Erachtens beide notwendig sind. Sie macht sie keinen Hehl daraus, daß die Arbeit im Europaparlament wegen der komplexen Verhandlungsprozesse und immensen Fülle von Gesetzesvorschlägen ausgesprochen kompliziert sei. Im Gegensatz zum Bundestag habe man im EU-Parlament selten länger als ein bis zwei Monate Zeit, um sich mit einem Entwurf zu befassen. Das galt beispielsweise für das EU-Rückübernahmeabkommen mit Pakistan, das beschlossen wurde, bevor kritische Akteure mobilisiert waren und sich eingereiht hatten.

Auf die Frage, was sie unter diesen Umständen Positives berichten könne, nennt sie den schwer zu mobilisierenden, aber letztlich erfolgreichen Protest gegen die Dienstleistungsrichtlinie. Die Gewerkschaften und sozialen Bewegungen mit ins Boot zu bekommen, habe harte Arbeit erfordert, die jedoch unverzichtbar sei, wolle man spürbaren Druck auf die Entscheidungsträger ausüben. Gegenwärtig sieht sie in der kompletten Überarbeitung der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung Möglichkeiten für eine breite Mobilisierung und wünschenswerte Korrekturen vorzunehmen. Derzeit werden zudem alternative Vorschläge zu Netzsperren im Kampf gegen Kinderpornographie verhandelt, bei denen die Arbeit mancher NGOs als gut und erfolgreich angeführt werden könnte. Eine große Lobby sorge zumindest an einigen wenigen Punkten langsam für Bewegung. Ziel bleibe zwar "Löschen statt Sperren", wenn aber Sperren nur auf richterliche Anordnung und Grundlage national bestehender Gesetze ermöglicht werden dürfen, sei dies in Hinblick auf eine Erfolgsbilanz "klein aber fein".

Mit ihrem Konzept von "radikaler Realpolitik", das die außerparlamentarische Bewegung dazu nutzt, Druck auf Entscheidungsträger auszuüben, und mithin eine erfolgreiche Arbeit im EU-Parlament nicht ausschließt, mußte Adeline Otto bei diesem Kongreß natürlich mit Skepsis rechnen. Daß sie eingeladen wurde, unterstreicht die Offenheit und Dialogbereitschaft dieses Spektrums engagierter linker Politik, wie es auch als mutiger Schritt hervorzuheben ist, daß sie der Einladung gefolgt war. Daß man trotz unterschiedlicher Auffassungen unter Linken kritisch und zugleich solidarisch diskutieren kann, belegte der gesamte Kongreß, der bemerkenswert konfliktfrei verlief, ohne daß dies zu Lasten der inhaltlichen Auseinandersetzung gegangen wäre.

So hebt Kriss Scholl hervor, daß ihm eine andere Richtung als die Zweiteilung vorschwebe, wonach sozialer Protest dem Zweck dient, Druck auf die Repräsentanten in den politischen Gremien auszuüben. Er habe eine andere Auffassung, wie sich Politik konstituiert. Es geht ihm um eine Bewegung, die nicht nur auf bestehende Verhältnisse reagiert, sondern fragt, wie wir uns für eine andere Gesellschaft organisieren. Er spricht damit das Erfordernis eines Zukunftsentwurfs an, der nicht in Reaktion auf die Herrschaftsverhältnisse erwirtschaftet, sondern erst durch deren Negation entwickelt wird. Wie die Erfahrung lehrt, pflegen soziale Bewegungen instrumentalisiert, ausgebremst und strukturell integriert zu werden, bis sie den letzten Rest ihrer ursprünglichen Brisanz und Sprengkraft verloren haben. Gleichermaßen droht der Marsch durch die Institutionen in aller Regel in der Partizipation an mehr oder minder saturierter Stelle zu enden.

Adeline Otto, die sich durch diesen Einwand mit der grundsätzlichen Problematik linker Politik im parlamentarischen Rahmen konfrontiert sieht, bestätigt, daß es in den Institutionen keine ausreichende Gegenbewegung gebe. Parteien hätten ihre eigene Logik und könnten keine breite Gegenbewegung hervorbringen, was ihres Erachtens auch gar nicht wünschenswert wäre. Gleichwohl gilt: Radikale Realpolitik begründe sich aus der Bewegung von unten, komme aber ohne Träger in den Parlamenten nicht aus. Der Bewegung mangele es momentan an Verbindlichkeit, Netzwerke seien zu volatil und in ihrem Informationsaustausch zu träge. Sie plädiert für mehr Professionalität, spontane Treffen und Demonstrationen reichten nicht aus. Denn die einflußreichen Lobbyisten verfügten über umfassendere Mittel, seien besser organisiert. Wie will man unter diesen Umständen ein Gegengewicht herstellen? Starke Netzwerke aufbauen, politische Prozesse kritisch begleiten und Widersprüche aufdecken, parlamentarisch wie außerparlamentarisch. Beispielsweise werde das Grundeinkommen selbst in der Partei DIE LINKE kontrovers diskutiert. Erforderlich sei, Kontakt mit anderen Netzwerken und potentiellen Bündnispartner aufzunehmen, doch was fehle, sei die Nachhaltigkeit. Politik werde nicht in die Pflicht genommen.

Auf die Nachfrage, ob sich in der EU-Politik nicht vielmehr eine Tendenz nach rechts abzeichnet, antwortet Adeline Otto, dies sei zweigestaltig. Der Staat übe verschiedene Funktionen aus, so auch die Gewährung von Rechten und den Schutz vor Willkür. Hier gelte es anzusetzen und wünschenswerte Gesetzgebungsprozesse zu befördern. Die Frage sei nicht ob EU, sondern welche EU.

Detlef Hartmann, René Paulokat - © 2011 by Schattenblick

Engagiertes Gespräch fast ohne Tools
© 2011 by Schattenblick

René Paulokat vertrat auf dem Podium die Position des Experten für IT-Netzwerke, der die technischen Voraussetzungen dafür bereitstellt und für die Bewegung verfügbar macht. Die Gruppe so36.net hat seit elf Jahren Vereinsstruktur und kümmerte sich darum, Organisationen und Einzelpersonen Bandbreiten zur Verfügung zu stellen. Netzsperren sind seines Erachtens nur relevant, wenn sich Nutzer uninformiert im Netz bewegen. Die Frage sei also, inwieweit sie sich für den eigenen Schutz und die eigene Sicherheit interessieren. Er selbst begleite Gipfel und Events, wobei er die Infrastruktur für die Bewegung bereitstelle. Wichtig ist seinen Worten zufolge, sich verstärkt auf europäischer und globaler Ebene zu bewegen. Man habe im AK-Vorratsdatenspeicherung nicht mitgewirkt, da dieses Bündnis eine diffuse Breite aufweise. Der Versuch, AK-Vorrat links zu überholen, sei jedoch verpufft.

Auf die Frage, ob sich über WikiLeaks und andere Werkzeuge Sozialräume verändern, erwidert René Paulokat: Zu den traditionellen Domänen der Linken gehörten insbesondere Arbeitsverhältnisse und Migranten. Sein Thema sei hingegen kein traditionelles Thema der Linken, zumal er mit einem kämpferischen Ansatz an die Wand fahren würde. In Tunesien habe eine Facebook-Revolution stattgefunden, die belege, daß sich die Instrumente der Herrschenden gegen sie selbst wenden ließen. Gipfelprotest wäre anders nicht möglich. Ob man Netzprojekten trauen kann, lasse sich jedoch nicht abschließend beantworten. Welche Werkzeuge unter welchen Bedingungen nutzbar sind, sei eine Frage, an der natürlich auch im radikal linken Spektrum gearbeitet werde. Wenngleich Tools nicht in der Lage seien, Soziales herzustellen, seien Medien doch unverzichtbar für die Diskussion: Jede Bewegung schafft sich die Medien, die sie braucht. So habe WikiLeaks ein Potential, das man nicht wegwischen könne. Dies sei eine Voraussetzung, um Soziales zu schaffen.

Dies regt Kriss Scholl zu dem prinzipiellen Einwand an, daß Bewegung nicht an Technologie gebunden sei. Auch wenn dies die Mainstreammedien behaupteten, sei Technik nie eine Antwort auf die Organisationsfrage. Organisation komme von unten.

Diese Auffassung teilt auch Detlef Hartmann, der unterstreicht, daß Tools nichts ersetzen, ja Beziehungen von Menschen noch nicht einmal abbilden könnten. Um dies zu illustrieren, bedient er sich des Bildes, daß jemand beschließt, all seine Facebook-Freunde einzuladen. Von 400 Leuten kommt jedoch kein einziger bis auf die Nachbarin, die er auch ohne Facebook gut kennt. Face to face schaffe hingegen Kontakte gänzlich anderer Art, da der Blick in die Augen Erkenntnisse möglich mache, zu denen Biometrie nicht in der Lage ist. Nur konkrete Beziehungen seien in der Lage, Gegengesellschaft herzustellen. Facebook mag ja in Tunesien etwas bewirkt haben, doch wenn sich die Menschen auf den Weg nach Europa machen, können Tools Frontex nicht überwinden.

Als Menschen vor zwanzig Jahren versuchten, die Festung Europa zu durchbrechen, indem sie Fluchtrouten nach Europa öffneten, sei dies eine grundsätzlich andere Herangehensweise gewesen. Die Migranten holten sich ja nur zurück, was ihnen weggenommen wurde. Eine erfolgreiche Bewegung sollte ihnen die Möglichkeit geben, ihre überlegenen Fähigkeiten als Kosmopoliten einzusetzen. Der Aufbau von Frontex machte dieser Bewegung jedoch weitgehend ein Ende. Welche praktischen Möglichkeiten gibt es, ein Gegeneuropa zu schaffen, eine Gegengesellschaftlichkeit und eine Verbindung mit Leuten außerhalb der Festung Europa herzustellen? Menschen in Institutionen könnten nach seiner Überzeugung Gegengesellschaftlichkeit nicht herstellen. Politiker stellten Gesellschaft nicht her, sondern bewirtschafteten sie.

Hartmann hebt die Notwendigkeit hervor, Verbindungen zu den Banlieues, zu Griechenland herzustellen, um über die Mauer der Festung hinauszugreifen und beispielsweise Tunesien zu unterstützen, denn Europa sei längst größer geworden. So sei Nordafrika als Peripherie, als die diese Region der administrativen und ökonomischen Kontrolle der hochproduktiven Metropolengesellschaften unterworfen wird, nicht mehr eindeutig von Europa abzugrenzen. Dabei gehe es nicht nur darum, Widerstand zu leisten, sondern etwas Tragfähiges zu schaffen, das neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Das Projekt Europa sei in ungeheuerer Bewegung, und doch habe die Linke nicht ein kleines Pünktchen dagegen bewirkt. Warum schaffen wird es nicht? Wir müssen daran arbeiten, wir müssen über die entschiedene Auseinandersetzung mit den herrschenden Bedingungen ein Europa von unten schaffen.

Die Frage, wohin das Projekt EU in seiner derzeitigen Gestalt strebt und welche Rolle Deutschland dabei spielt, findet Detlef Hartmann nicht leicht zu beantworten. Allein im letzten Jahr habe sich Ungeheuerliches getan, ohne daß die Linke wach geworden wäre. Die griechische Bevölkerung habe sich nach Kräften gewehrt, doch gehe das Konsortium aus EZB, EU-Kommission und Merkel unerbittlich gegen sie vor, um ihr die Souveränität zu nehmen. In diesem Prozeß finde die Veränderung einer ganzen Gesellschaft statt, deren Eigenheiten zertrümmert würden. Die deutsche Kanzlerin habe keineswegs versagt, sondern im Gegenteil Change Management vom Feinsten wie aus dem McKinsey-Lehrbuch betrieben. Die Presse trage das Ihre dazu bei, wie der Blick auf die demütigenden Schlagzeilen der Bild-Zeitung verrät. Wie hierzulande die Sarrazin-Debatte demonstriert, greift ein europäisches Herrenmenschentum um sich, das weniger privilegierte, im biologistischen Diskurs der genetischen Minderwertigkeit bezichtigte Menschen verwertet und ihre Gesellschaften zur Maximierung eigener Verfügungsgewalt zerschlägt.

Detlef Hartmann - © 2011 by Schattenblick

Kämpferische Streitbarkeit kennt kein Alter
© 2011 by Schattenblick

Strukturpolitik ist Clusterpolitik, führt Detlef Hartmann aus: Man stellt innovative Kerne her, deren gesamte Umgebung aus Sklaverei besteht. Alles im Umfeld der Cluster zu beherrschen, sei mit Strukturpolitik gemeint. Diesen Staat, wie wir ihn kennen, werde es nicht mehr geben. Obgleich es sich um den schärfsten Angriff zum Umbau seit dem Nationalsozialismus handle, sei der Widerstand verschwindend gering. Man könne unter diesen Voraussetzungen nicht so tun, als unterstütze man Europa, da buchstäblich sozialer Krieg herrsche. "Die Menschen in den Banlieues und in Griechenland sind unsere Schwestern und Brüder", unterstreicht Hartmann. Es handle sich um eine historisches Drama, das sich vor unseren Augen vollzieht.

Im Plenum herrschte Einigkeit darüber, daß der Klassenkampf in Europa gegenwärtig mit voller Wucht von oben geführt wird. Beispielsweise hat die britische Polizei die Instrumente der Durchdringung antagonistischer Bewegungen perfektioniert, wie an der jüngsten Enttarnung eines europaweit tätigen Spitzels deutlich wurde. Daß in dieser Unterwanderung auch die Wertschätzung bestimmter Fraktionen der Bewegung zum Ausdruck komme, wie ein Gesprächsteilnehmer meinte, blieb nicht unwidersprochen. René Paulokat wies diese Auffassung entschieden zurück, indem er meinte, daß es längst Routine sei, gesellschaftliche Bereiche zu überwachen, unabhängig davon wie hochwertig die soziale Bewegung ist. Zur Sprache kam in diesem Zusammenhang der Antagonismus zwischen Vertrauen und Überwachung, da Spitzel nicht zuletzt im Gefolge ihrer Enttarnung zur Verunsicherung der Bewegung beitragen.

Wie ist es demgegenüber um das Europa von unten, jenes der sozialen Bewegungen bestellt? An der Basis der Gesellschaft trifft man zwangsläufig auch auf Rassisten und Reaktionäre, wie überhaupt die Definition der arbeitenden Klassen beträchtliche Probleme aufwirft. Mehrere Diskussionsteilnehmer sprachen sich dafür aus, den Kreis der politischen Subjekte des Widerstands nicht durch vorgefaßte Denkschablonen unangemessen einzuengen. Es gelte, antiinstitutionelle und konstante Staatskritik von unten zu mobilisieren und ausbrechende Kämpfe zu unterstützen. Angesichts der Aufstände in Tunesien und Ägypten stellt sich um so mehr die Frage, wie man Gegengesellschaft definieren könnte. Während im Nahen Osten derzeit Tausende auf die Straße gehen, um die sie kujonierenden Regimes zu stürzen, lassen die Machthaber und die sie unterstützenden Kräfte in Europa und den USA nichts unversucht, die soziale Bewegung zu immunisieren.

Was die Aufstände in Tunesien oder Ägypten betreffe, gehorchten die aufbegehrenden Menschen nicht unseren Vorstellungen von Klassen, so Detlef Hartmann. Wenngleich wir nicht wissen, wer diese Menschen sind, steht doch fest, daß sie genauso gut sind wie wir. Es gelte hinzugehen, Kontakte zu schließen und tragfähige menschliche Beziehungen herzustellen. Man könne sich diesen sozialen Subjekten annähern und herausfinden, was sie bewegt. Wie sieht die Qualität menschlicher Beziehung aus? Unser Reichtum besteht in etwas ganz anderem, als gemeinhin behauptet wird. Die Qualität der menschlichen Beziehungen erschöpfe sich nicht im Antikapitalismus. Es gelte Beziehungen in Auseinandersetzungen herzustellen: Dann sind wir in der Lage, Grenzen zu sprengen.

Um seinen praxisbezogenen Ansatz zu erläutern, berichtet Detlef Hartmann von einem Arbeitskampf, der vor fünf Jahren bei dem Cateringunternehmen Gate Gourmet in Düsseldorf, das von einem Investor aufgekauft worden war, geführt wurde. Die Beschäftigten streikten gegen die Angriffe auf ihre Arbeitsbedingungen und wurden mit Blockaden unterstützt, als Streikbrecher eingesetzt werden sollten. MigrantInnen und Hartz IV-Geschädigte führten damals die Auseinandersetzung übergreifend und schlossen sich zusammen. Obwohl die Gewerkschaften eine kontraproduktive Rolle einnahmen, kamen Menschen aus unterschiedlichen Lebensbereichen zusammen und machten etwas Strukturbrechendes. Nachzulesen ist dies im Buch "Flying Pickets". "Nur Gemeinschaft kann menschliche Verhältnisse schaffen. Es ist nichts Technisches, Agitatorisches - wir müssen hingehen", schließt Detlef Hartmann.

'Mehringhof Theater' - © 2011 by Schattenblick

Am Veranstaltungsort
© 2011 by Schattenblick

3. Februar 2011